Prolog
Rote Erde, links und rechts. Dürre, grüne Sträucher huschen an mir vorbei. In manchen Augenblicken kann man das magische Blau des Ozeans aus der Entfernung blitzen sehen.
Er steuert den Wagen unaufhaltsam die eine Straße entlang, die geboten ist, sagt kein Wort.
Hin und wieder zweigt ein unbefestigter Pfad vom Weg ab. Können wir nicht einfach abbiegen und machen, wonach uns ist, anstatt das Richtige zu tun? Und was ist richtig? Was ist falsch? Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.
Dröhnt der Motor dieser alten Klapperkiste heute noch lauter als sonst?
Mit jedem Meter entfernen wir uns weiter von der kleinen Stadt. Weiter von Magda. Oh Magda. Sie wird mir fehlen. So wie er.
Stur starre ich geradeaus, wage es nicht, zu ihm hinüber zu sehen, denn wenn ich es doch tue, überkommt mich vielleicht das Verlangen ihn anzufassen. Doch das will er nicht. Und er hat recht.
Mein Gesicht ist verquollen und auch jetzt noch, nach einer durchgeweinten Nacht, laufen die Tränen. Wie viele davon hat man auf Vorrat?
Was zum Teufel ist hier mit mir passiert? Ich wollte mich fallen lassen, konnte einem Morgen nicht entgegenblicken, weigerte mich, an die Konsequenzen zu denken.
Wie soll ich nun zurückgehen? Wie kann ich jetzt weitermachen?
Lena: Drei Wochen zuvor
Kapitel 1
Freitag: 17. März, Frankfurt
Ein Blick auf den Wecker. 5:19 Uhr. Ich seufze. Wann bin ich zum letzten Mal vom Klingeln des Alarms wachgeworden? Keine Ahnung.
In Gedanken bin ich schon im Büro. Was steht heute als Erstes an? Jede Menge. Bis gestern war ich in Boston bei einem unserer wichtigsten Kunden. Eine Firmenübernahme, für die nur die besten Business Consultants angeheuert wurden. Mein Manager Julian, der mindestens genauso ehrgeizig ist wie ich, hatte sich das Projekt unter den Nagel gerissen. Seit Monaten sind wir damit beschäftigt, haben den Atlantik unzählige Male überquert. Tonnen von Überstunden. Dies war der letzte Termin für eine Weile. Es ist geschafft. Wir haben gute Arbeit geleistet und der Kunde ist zufrieden.
In den nächsten Tagen werden wir die Abschlusspräsentation für das Board halten und dann wird es spannend. Die meisten Leute in meinem Team hoffen nicht nur auf eine Beförderung, sondern erwarten sie. Ich auch. Lena Harting, Senior Consultant. Dafür habe ich in den letzten Monaten gearbeitet wie eine Irre. Nach diesem Projekt muss es so weit sein.
Es verlangt an Biegsamkeit, wenn man neben diesem Beruf eine Beziehung führen will. Daniel weiß um all die Opfer, die ich bringe, denn auch er arbeitet hart an seiner Karriere. Er ist Investmentbanker. Unsere Jobs fordern viele Stunden unseres Lebens. So kommt es, dass wir uns in der Woche oft nur kurz am Frühstückstisch begegnen. Dort schütte ich den Kaffee schnell in mich hinein, während er seine Nase in der Zeitung vergräbt, um die neuesten Börsenstände zu studieren. Lange Tage im Büro folgen und oft wird die Arbeit mit nach Hause genommen.
Ich bin nicht unglücklich mit meinem Leben. Einen langsamen Alltag ohne Stress kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Dabei habe ich diesen extremen Lifestyle nie angestrebt. In den letzten Jahren ist es irgendwie so gekommen und ich nahm es hin. Manchmal befürchte ich auseinanderzufallen, wenn ich stehen bleiben und rasten sollte. Besser bleibe ich bei voller Fahrt und sehe nicht nach links und rechts.
Nochmal einen Blick auf den Wecker. 5:27 Uhr. Es hat keinen Sinn. Ich kann nicht mehr einschlafen und knipse das Licht an. Wenigstens muss ich mir keine Sorgen machen, dass ich Daniel wecke. Die Stelle neben mir im Bett ist leer. Er ist auf Geschäftsreise.
Eine halbe Stunde später sind die unbändigen Locken durch das Glätteisen gejagt und mit viel Haarspray in eine adrette Hochsteckfrisur verbannt. Wie immer halte ich inne, bevor ich die Hose hochziehe und betrachte diese grässliche Narbe am Bein. Sie zieht sich am linken Oberschenkel entlang. Die Haut an der Stelle ist verfärbt und uneben. Ich habe sie mir vor ein paar Jahren bei einem Autounfall zugezogen und scheine zu eitel zu sein, um darüber hinwegzukommen. Jedenfalls lasse ich mich seither ungern in Minikleidern oder Bikinis sehen, doch bei meinem Arbeitspensum lässt sich das leicht vermeiden.
Nochmal einen Blick in den Spiegel. Das Make-up sitzt. Gut. Es kann losgehen.
Gerade will ich mich auf den Weg ins Büro machen, als das Handy piept. Um diese Zeit! Wer ist das denn?
Happy Birthday, Süße!
Sei heute Abend gefälligst pünktlich.
Küsschen, Nicole
Meine Güte. Meinen Geburtstag hatte ich glatt vergessen. Pünktlich soll ich sein? Das kann ich nicht garantieren.
„Happy Birthday, Lena!“ Mark hält mir bei seiner Ankunft im Büro einen Cupcake vor die Nase. Perplex bedanke ich mich. Er ist mein Assistent und vermutlich ist es sein Job, zu wissen, wann ich Geburtstag habe. In der anderen Hand hält er einen Pappbecher mit Kaffee und prostet mir damit zu. Ich würde erwidern, aber mein Becher ist schon leer.
„Danke. Das ist lieb von dir.“ Ich schiebe die Unterlagen zur Seite und beiße in den kleinen Kuchen. Lange kann ich mich jedoch nicht damit aufhalten. Wegen des Trips sind andere, kleinere Projekte liegen geblieben, die nun dringend bearbeitet werden sollten.
Der Vormittag verläuft wie immer. Mark klärt mich über die heutigen Termine auf und wir gehen unseren Ablauf durch. Ein paar wichtige E-Mails müssen beantwortet werden, die ich schon im Vorfeld als dringend markiert habe. Später bin ich mit einer langen Telefonkonferenz mit einem Klienten beschäftigt. Während des Gespräches linse ich verstohlen auf mein Handy. Ein paar Glückwunschnachrichten zum Geburtstag sind eingegangen. Aber keine von Daniel. Es hat mir nichts ausgemacht, als ihm dieser Businesstrip kurzfristig dazwischenkam und er somit heute Abend nicht bei mir sein kann. So ist unser Leben nun mal. Wir sind immer sehr beschäftigt, doch gar keine Nachricht zu bekommen, ist etwas … Ach, nun werde nicht so jämmerlich sentimental, sage ich mir selbst. Wir haben eben beide viel um die Ohren.
Endlich ist die Besprechung beendet und ich lege den Hörer auf. Mein Magen knurrt lautstark und Mark taucht auf, als ob er es gehört hätte.
„Das hat ja ewig gedauert“, stöhnt er.
Mit einem entnervten Blick stimme ich ihm zu.
„Willst du zur Feier des Tages was essen gehen? Da ist ein neuer Thai gleich um die Ecke. Der hat super Lunch-Angebote.“
Für einen kleinen Moment gebe ich Marks Vorschlag in meinen Gedanken etwas Raum, aber dann steckt unser Boss Julian seinen Kopf zur Tür herein.
„Mark, kannst du gleich mal den Meetingraum klarmachen? Lena, wir haben ein neues Projekt auf dem Tisch. Ich kann die wichtigsten Anliegen des Klienten auflisten. Wir müssen eine Strategie entwickeln und ich brauche einen Breakdown der dringendsten Tasks. Mark, hol die anderen dazu.“
Diese Sache erfordert meine Aufmerksamkeit für den größten Teil des Tages. Gegen 20 Uhr stecke ich die Nase in Julians Büro. Alle anderen sind noch bei der Arbeit. Normalerweise würde ich auch länger machen, doch ich bin mit meinen Freundinnen verabredet und wieder einmal zu spät dran.
»Julian, sorry aber …“
„Ja, ja! Kein Ding. Ist doch dein Geburtstag. Viel Spaß!“ Er winkt mich aus dem Büro.
In Windeseile wechsle ich in der Damentoilette vom Businesslook in ein Kleid und frische das Make-up auf. Ein kurzer Blick auf das Handy. Immer noch keine Nachricht von Daniel. Hm.
Die Uhr auf dem Monitor sagt mir, dass ich keine Zeit habe, um darüber nachzudenken. Schnell raus aus dem Gebäude und die Straße entlang. Meine Freundinnen Melanie und Nicole haben mich für 19 Uhr in unsere Lieblingscocktailbar bestellt. Ich denke an Nicoles morgendliche Mahnung, pünktlich zu sein. Tja, jetzt kann ich nichts mehr daran ändern. Wenigstens ist die Strecke nicht weit und bald bahne ich mir den Weg durch die Menschenmenge in der vollen Bar.
Sie sitzen in unserer üblichen Ecke, doch vermutlich hätte ich die beiden auch an jedem anderen Ort entdeckt. Nicole zieht die Blicke mit einen dieser übergroßen, grünen Koboldhüte auf sich, die man am 17. März in Irland zu sehen bekommt. Mein Geburtstag fällt auf den irischen Nationalfeiertag St. Patrick’s Day. Vor zwei Jahren sind wir in einer Gruppe von Freunden nach Dublin gereist, um mitzufeiern. Da hat sie den Hut ergattert, der jetzt ihr Haupt ziert.
Nicole ist Feuer und Flamme für örtliche Traditionen. Im letzten Herbst fuhren wir übers Wochenende nach München, um den Geburtstag eines Freundes auf dem Oktoberfest zu feiern. Dafür hüllte sie sich in eins der typischen Trachtenkleider, das mit seinem üppigen Ausschnitt zum freudigen Blick ins Dekolleté einlud. Immer wieder versuchte sie sich im Jodeln und riss sich einen Typen in Lederhosen auf. Sie liebt diese Aufmerksamkeit. Umso überraschter bin ich, dass Melanie nicht schon längst das Weite gesucht hat. Sie fühlt sich von Nicoles Aktionen oft blamiert.
„Happy St. Patrick’s Day!“, begrüßt mich Nicole mit schriller Stimme. Melanie wedelt mit einem großen Heliumballon, auf dem ‘Happy Birthday’ geschrieben steht und drückt mir einen Kuss auf. Ich vermute, dass die beiden schon den dritten Drink intus haben. Für mich steht auch einer auf dem Tisch. Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, dass ich die Mädels so lange warten lassen habe. Andererseits müssten sie die ständigen Verspätungen langsam gewohnt sein.
„Alles Liebe zum Geburtstag“, trällern die zwei wie aus einem Mund und drücken mich.
Ich plumpse auf den Stuhl und nehme erstmal einen großen Schluck von meinem warmen Cocktail. Melanie bestellt schnell drei weitere Drinks, bevor sie mich mit tadelnder Miene ansieht.
„Kannst du nicht einmal in deinem Leben pünktlich sein?“
Für einen Moment überlege ich, ob ich von meinem stressigen Tag erzählen soll, entscheide mich aber dagegen.
Frische Cocktails werden serviert, während ich den alten fast mit einem Zug austrinke. Die beiden lassen mich hochleben. Mein leerer Magen macht sich ein wenig bemerkbar. Irgendwie ist das Mittagessen komplett ausgefallen. Ein Kaffee hat es ersetzt.
Anstatt es langsam anzugehen, drängen die Mädels zur Eile. In einer halben Stunde müssen wir eine Reservierung wahrnehmen. Wo es hingehen soll, verraten sie nicht. Somit bringen wir unseren Klatsch und Tratsch schnell auf den neuesten Stand.
Ich sehe in die Runde und muss lächeln. Wir drei könnten verschiedener nicht sein. Melanie ist die Vernünftige und Nicole die Verrückte. Ich selbst finde mich wohl in der Mitte wieder.
Melanie arbeitet als Grundschullehrerin. Das passt. Stets besonnen, hat sie eine ruhige Art zu sprechen und behandelt ihre Freunde oft auf eine mütterliche Art. Ihre rotblonden Haare sind immer ordentlich zusammengebunden und unzählige Sommersprossen bedecken ihr Gesicht. Letztes Jahr hat sie ihre Jugendliebe Christian geheiratet. Über Nicoles Männerprobleme kann sie nur den Kopf schütteln. Wir kennen uns, seit wir klein waren. Sie ist für mich ein wichtiger Ansprechpartner, wenn das Leben zu chaotisch wird und ich einen besonnenen Rat suche.
Nicole ist als das Gegenteil zu Melanie oft ein guter Ausgleich. Die südamerikanischen Wurzeln ihrer Mutter haben ihr rassiges, dunkles Haar beschert. Sie trägt stets große Ohrringe und oft eine Sonnenbrille auf dem Kopf, ob die Sonne nun scheint oder nicht. Unter ihren zahlreichen Liebschaften ist nie der richtige Mann. Allerdings schert sie sich nicht darum, ob sie Mr. Right finden wird. Sie ist bei einem der privaten Fernsehsender beschäftigt und arbeitet sich emsig hoch. Wenn sie dafür gelegentlich mit jemanden schlafen muss, dann stört sie das nicht. Irgendwann, während der Studienzeit stieß sie zu uns und ist seither ein festes Mitglied der Truppe.
„Kannst du bitte den dämlichen Hut absetzen?“, fragt Melanie nach einer Weile.
„Warum? Der Hut ist eine Hommage an Lenas Geburtstag am St. Patrick’s Day und dass wir sie vor zwei Jahren wiedergefunden haben.“ Nicole grinst hinterhältig. „Sonst würde sie vielleicht jetzt noch in Dublin herumirren.“ Natürlich wird die Geschichte auch heute erzählt. Vermutlich werde ich sie noch an meinem 80. Geburtstag zu hören bekommen.
„Ich kann es bis heute nicht fassen, dass du damals über Stunden verschwunden warst. Was hast du bloß getrieben?“, fragt Melanie.
„Das haben wir schon tausendmal durchgekaut. Ich habe mir die Parade angesehen und Bier mit den Leuten auf der Straße getrunken“, sage ich leicht genervt. „Ich hätte euch in der Menschenmenge nie wiedergefunden und wollte trotzdem den Tag genießen.“
„Und das haben wir doch alle“, unterbricht Nicole. „Komm. Pack deine Geschenke aus!“
Ich widme mich den kleinen Päckchen. Melanies Geschenk ist ein gravierter Kugelschreiber und sieht edel aus. Als ich das Papier von Nicoles Geschenk aufreiße, kommt ein flauschiges Stofftier zum Vorschein. Ein Clownfisch mit weißen und orangen Streifen. Ich schmiege ihn an meine Wange. Er ist niedlich.
Es gab Zeiten, da sah ich diese süßen Fische jeden Tag im Original. Das scheint heute wie aus einem anderen Leben. Kein Grund, sentimental zu werden, sage ich mir selbst. Schnell nehme ich einen großen Schluck vom Cocktail.
„Du hast bestimmt schon eine Ahnung, warum ich dir einen Fisch schenke.“ Geschäftig kramt Nicole ein paar Bögen Papier aus ihrer Tasche. „Tatata! Dein Horoskop als Fisch-Frau für das kommende Lebensjahr.“
Das ist keine Überraschung. Seit wir uns kennen, lässt sie das jedes Jahr zusammenstellen. Irgendwann hat sie bei meiner Mutter meine genaue Geburtszeit und -ort erfragt und die Daten für ein personalisiertes Horoskop eingesendet. Ich glaube zwar nicht daran, aber amüsant ist es immer wieder.
Melanie verdreht die Augen, während Nicole sich bereit macht daraus vorzulesen.
„Gesundheit und Beauty: Du siehst fabelhaft aus, wenngleich du etwas Farbe im Gesicht gebrauchen könntest. Versuche, mehr Zeit in der Sonne zu verbringen …“
„Langweilig!“, unterbricht Melanie „Es ist März. Ein langer Winter liegt hinter uns. Wir alle könnten mehr Sonne vertragen.“
Nicole liest unbeirrt weiter.
Ein ganzer Absatz beschäftigt sich mit meinem gesundheitlichen Wohlergehen und gibt Tipps, wie ich meinen Teint auf Hochglanz bringen kann, damit mein Angesicht noch mehr strahlt, als jetzt schon.
„Beruf: Dein beruflicher Alltag fühlt sich momentan an, als ob du den Mount Everest erklimmst.“
Das ist wahr! Aber das ist nicht nur momentan der Fall, sondern immer.
Munter werden Anweisungen gegeben, wie ich mir die Zeit besser einteilen könnte, um eine ausgeglichenere Balance zu finden. Wenn das so einfach wäre.
„Das wissen wir doch. Lena hat von uns allen den stressigsten Alltag“, seufzt Melanie, als Nicole den beruflichen Abschnitt des Horoskopes zu Ende gelesen hat.
„Diesmal gebe ich dir recht. Lass uns zum interessanten Teil kommen.“ Nicole sieht uns beschwörend an. „Lenas Liebesleben.“
Ich muss laut loslachen. „Das ist so gut wie nicht vorhanden. Mein Leben ist zu stressig dafür.“
„Ach, jetzt übertreib es nicht. Daniel ist doch ein so lieber Kerl!“, mahnt mich Melanie zur Ordnung, während Nicole in Sachen Liebe loslegt.
„Dein Liebesleben könnte im kommenden Lebensjahr turbulenter kaum sein. In den ersten Wochen scheint in deinem Inneren ein Kampf zu toben und die Entscheidung fällt allzu schwer. Dein Kopf will das eine, dein Herz etwas ganz anderes. Zweifel und Ängste plagen dich. Vielleicht hilft eine Reise, um Klarheit zu schaffen. Gib nicht auf und horche in dich hinein. Trotz aller Hindernisse werden Kopf und Herz den Weg finden und am Ende wissen, wo dein Zuhause ist.“
Wir sehen den Text ratlos an. Was für ein seltsames Horoskop.
„Ein Kampf in meinem Kopf? Eine Reise? Mein Herz sucht ein Zuhause?“
„Ich kann nur vorlesen, was hier gedruckt steht.“
Wir brechen in Gelächter aus.
„Ich sag es ja immer. Was für ein Schwachsinn,“ ruft Melanie aus.
„Das weißt du doch gar nicht. Keiner weiß, was die Zukunft bringt“, widerspricht Nicole.
„Wir müssen langsam los.“ Melanie richtet sich auf.
„Wo gehen wir hin?“
„Ins Chateau.“
Ins Chateau? Jetzt bin ich überrascht.
Das Chateau ist ein teures französisches Restaurant in der Innenstadt. Dort waren Daniel und ich schon öfter zu Gast. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir das Tanzbein schwingen gehen. Tanzen ist eine alte Leidenschaft. Meine Mutter leitet eine Ballettschule. Als ich klein war, gab sie mir Unterricht und ich liebte es. Später fing ich an, mich für andere Tanzarten zu interessieren. Mit Anfang Zwanzig war ich auf der Tanzfläche zu Hause. Über die letzten Jahre musste dieses Hobby extrem leiden. Daniel hat wirklich überhaupt kein Rhythmusgefühl und meidet derlei Veranstaltungen. Selbst in Clubs fühlt er sich nicht wohl. Zu laut. Zu ungemütlich. ‘Ich mache mich doch nicht zum Clown’, sagt er immer. Daher suchen wir in unserer begrenzten Freizeit Restaurants wie das Chateau auf oder das Theater. Darüber möchte ich mich gar nicht beschweren, aber es ist Freitagabend und ich bin mit meinen zwei besten Freundinnen unterwegs. Irgendwie hatte ich auf einen aufregenden Abend gehofft.
„Mädels, das ist viel zu teuer! Da gehen Daniel und ich nur hin, wenn wir was ganz Besonderes zu feiern haben.“
„Na, heute ist doch dein Geburtstag!“, ruft Nicole.
Schnell besinne ich mich eines Besseren. Sie wollen mir eine Freude machen und ich sollte nicht so undankbar sein.
Ein Taxi bringt uns zum Chateau.
Daniel und ich haben erst vor zwei Wochen hier zu Abend gegessen. Im Alltag bringen wir genügend Opfer, dann greift man schon mal tiefer in die Tasche. Er sagt immer: ‘Nur das Beste für uns beide’. Und davon versteht er etwas. Meist studiert er die Speisekarte mit seinem Adlerauge und stellt dem Kellner bei der Bestellung tausende Fragen über das Angebot. Dann nimmt er sich die Weinkarte vor und verlangt nach dem Sommelier. Von dem erwartet er eine Empfehlung, um den perfekt korrespondierenden Wein zu seinem Dinner zu genießen. Ich grinse immer in mich hinein. Ganz sicher bin ich mir nicht, ob all die Fragen mit wirklichem Interesse verbunden sind oder eine Show darstellen, um mir und seiner Umwelt zu imponieren. Falls ihm ein Kellner nicht informiert genug erscheint, pflegt Daniel ihn mit mehr Nachfragen zu grillen. Manchmal muss ich ihn sogar beschwichtigen, wenn er zu abfällig wird. ‘Der Mann versucht doch nur, seinen Job zu machen’, würde ich sagen. ‘Den macht er aber schlecht’, blafft er dann meist zurück.
Die luxuriöse Atmosphäre des Chateaus mit schweren bordeauxroten Samtvorhängen an den Fenstern und alten Gemälden an den Wänden, nimmt mich sofort gefangen, als wir eintreten. An einem Freitag wie heute sind die altmodischen Stühle mit farblich passenden Samtbezügen bis auf den letzten besetzt. Das Licht unzähliger Kronleuchter spiegelt sich in den auf Hochglanz polierten Cloches, die von den Kellnern auf Tellern mit den teuersten Leckereien durch das Restaurant balanciert werden.
Melanie sucht den Commis de Rang auf und spricht für einen Moment mit ihm. Er führt uns durch das Restaurant zum hinteren Teil, in dem die Nebenzimmer untergebracht sind. Ich wundere mich etwas. Was in aller Welt haben die beiden Mädels arrangiert? Melanie tritt zuerst in einen der Nebenräume, gefolgt von Nicole und dann schließlich ich selbst.
Ich blicke auf und sehe viele bekannte Gesichter, Freunde und Kollegen von mir.
„Überraschung!“, rufen die etwa 40 Leute auf einmal im Chor und ich finde mich auf meiner eigenen Überraschungsparty wieder.
Die meisten Lichter werden gelöscht und die gesamte Runde fängt an, ‘Happy Birthday’ zu singen. Von der vielen Aufmerksamkeit bin ich fast etwas peinlich berührt. Ich habe kein Problem damit, mal im Mittelpunkt zu stehen, aber dies sprengt den normalen Rahmen.
Mit offenem Mund erblicke ich Daniel in der vordersten Reihe. Die Überraschung ist ihm gelungen. Meine Mutter schreitet mit einer Geburtstagstorte in den Händen zu mir. 29 Kerzen brennen darauf. Ich gebe mir Mühe, alle auf einmal auszublasen. Die Menge applaudiert, als ich es geschafft habe.
„Wünsch dir was!“, rufen einige.
Daniel gibt meiner Mutter ein Küsschen auf die Wange und stellt sich zu mir in die Mitte.
„Unsere hübsche Lena, sie lebe hoch!“
Die Gäste heben die Gläser und jubeln mir zu.
„Alles Gute zum Geburtstag, Schatz“, flüstert Daniel mir ins Ohr und drückt seine Lippen an mich. Er sieht so süß aus, wenn er zufrieden ist.
Dieses Überraschungsmoment hat er unter Garantie akribisch geplant. Nie würde er sich vor all seinen Freunden und Kollegen blamieren wollen. Ich kann mir sicher sein, dass er jede Sekunde sorgsam organisiert hat. Mein Perfektionist!
Von allen Seiten kommen Glückwünsche und Küsschen. Überall bekannte und geliebte Gesichter. Ich bin überwältigt. Daniel überreicht mir einen riesigen Strauß roter Rosen. Wir küssen uns innig. Das Publikum raunt ein mildes „Ooooh“.
Dann werde ich von meiner Familie in den Arm genommen. Meine beiden jüngeren Geschwister Nora und Tim zählen zu den Gratulanten und sogar meine geliebte Großmutter ist dabei.
Meine Mutter und ihr Lebensgefährte Walter geben mir je einen großen Schmatz. Die beiden sehen so glücklich aus, das macht mich selbst glücklich.
Als mein Vater vor etwa sechs Jahren an einem Schlaganfall starb, hat das meiner Mutter den Boden unter den Füßen weggezogen. Von einer Minute zur anderen war er nicht mehr da. Von einem Moment auf den anderen fand sie sich allein wieder. Er war stets Familienoberhaupt gewesen, der immer alles im Griff hatte. Es dauerte lange, bis sie darüber hinwegkam. Als sie uns letztes Jahr Walter vorgestellt hatte, wussten wir, dass es was Ernstes war, und gaben ihr gern unseren Segen.
Auch Nora und Tim wurden damals aus der Spur geworfen. Zu der Zeit schien es fast, als müsste ich in die Fußstapfen meines Vaters treten. Kein anderer war in der Lage, klar zu denken. Selbst trauernd und obendrein mitten im Studium, war es an mir, alles zusammenhalten. Es war manchmal ein unglaublicher Kraftakt, die gesamte Familie auf Kurs zu halten. In dieser schwierigen Zeit gab es nur eine Person, die wie eine Grand Dame an meiner Seite stand und mich nach Kräften unterstützte. Meine Großmutter. Einen stärkeren Menschen kenne ich nicht. Es war nicht nur mein Vater, der gestorben war. Es war auch ihr Sohn. Aber in diesen dunklen Tagen war sie der Fels in meiner Brandung. Wenigstens hatte es für uns alle ein Happy End und schweißte uns über die Jahre eng zusammen. Wir versuchen, uns regelmäßig zu sehen. Wegen unserer vollen Terminkalender ist das tricky, aber jeder von uns bemüht sich, es möglich zu machen. Und jetzt sind sie alle hier auf meiner Überraschungsparty, gutgelaunt mit einem Glas Champagner in der Hand.
„Ihr habt mich alle reingelegt“, rufe ich in die Runde. Daraufhin folgt allgemeines Gelächter und die Party kann losgehen.
Neben meiner Familie sind auch Daniels Eltern anwesend, gefolgt von Verwandten und mindestens zwanzig Freunden und Kollegen, die fest in unser Leben gehören. Hinten ist ein Buffet mit elegantem Fingerfood zu finden, von dem jeder bald probiert. In einer anderen Ecke steht ein Mitarbeiter an einer Bar und sorgt für das flüssige Wohlergehen der Gesellschaft. Edle Tropfen machen die Runde. Daniel, so scheint es, hat keine Kosten oder Mühen gescheut, um diesen Abend zu etwas ganz Besonderem zu machen.
„Daniel“, sage ich überwältigt. „Du spinnst! Das ist doch nur mein 29. Geburtstag.“
„Und der will gefeiert werden!“ Er gießt mir einen Schluck Rotwein ein. „Außerdem muss ich zugeben, dass ich sehr viel Hilfe bei der Organisation hatte. Das Chateau übernimmt ohnehin das Catering und einen großen Teil haben Melanie und Nicole erledigt. Die Einladung der Leute, die Geheimhaltung … wer, wann, wo, wie … die zwei haben sich um alles gekümmert. Sie sind die Heldinnen.“ Er winkt sie zu uns und wir stoßen an.
„Was macht ihr denn, wenn ich 30 werde?“
Ich lache und mische mich wieder unter die Gäste, versuche, mit jedem zu plaudern. Inzwischen sind sogar Julian und das gesamte Team eingetrudelt, wenn auch verspätet. Ich weiß ja, wie es im Büro zugeht und stoße mit ihnen an. Alle haben etwas Aufregendes zu berichten. Nora erzählt freudestrahlend, dass sie und ihr Freund Kevin sich endlich auf ein Urlaubsziel für dieses Jahr festlegen konnten. Florida soll es sein. Daniel gibt ihr eifrig Tipps für die Reise, denn wir waren schon zweimal da. Melanie schaltet sich zum Thema ein.
„Wir müssen uns auch mal wegen der Urlaubsplanung zusammensetzten. Wir wollten doch einen Pärchenurlaub machen“, meint sie gut gelaunt.
„Würde ich gerne. Wenn ich mal Zeit hätte, darüber nachzudenken. Vielleicht schicke ich dir meinen Assistenten Mark vorbei, um das für mich zu planen. Der ist ohnehin besser organisiert als ich.“
Die Kellner verteilen eifrig gut gefüllte Champagnergläser. Daniel bittet um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft, indem er mit einem Kaffeelöffel an sein Glas klopft.
„Lena“, sagt er und die Stimmen der Gäste verstummen langsam. „Ich hoffe, du magst deine Geburtstagsparty?“ Er deutet in die Runde, woraufhin ich überschwänglich nicke. Daraufhin jubelt die Schar. „Ich bin froh, dass ihr heute alle hier seid, um diesen besonderen Tag mit uns zu teilen“, fährt er fort. „Nun weiß ich natürlich nicht, was dein Wunsch war, als du die Kerzen ausgeblasen hast und das darfst du uns auch nicht verraten, sonst geht es nicht in Erfüllung“, sagt er verschwörerisch, „… aber vielleicht lässt du mich heute und an all den Tagen, die folgen werden, dabei helfen, dass deine Träume in Erfüllung gehen.“
Ich kann nicht fassen, was sich vor meinen Augen abspielt. Wie in Zeitlupe nehme ich wahr, dass Daniel vor mir auf die Knie geht und einen funkelnden Diamantring hochhält. Die Geste alleine lässt die Gäste jubeln, schluchzen und schmachten. Mit erwartungsvollem Blick sieht er zu mir hoch.
„Lena, willst du meine Frau werden?“
Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Alle Leute, die ich kenne, stehen um mich herum und klatschen. Einige wischen sich die Tränen von der Wange. Dann wird es still. Unerträglich still. Mir wird fast ein wenig schwindlig. Nun realisiere ich, dass man auf meine Antwort wartet.
„Ja.“ Ein schriller Ton. Passt gar nicht zu mir.
Unter dem tosenden Applaus unserer Familien und Freunde, steckt er mir den Ring an den Finger und küsst mich innig. Der Perfektionist Daniel hat wieder zugeschlagen. Der perfekte Anlass. Der perfekte Zeitpunkt. Der perfekte Antrag. Und der Ring passt, als hätte ich ihn mir selbst ausgesucht. Sämtliche Gäste gratulieren uns. Meine Mutter und Walter umarmen mich.
„Ich bin so glücklich für dich, mein Schatz. Daniel ist so ein toller Mann.“
Nicole reißt meine Hand hoch, um den Verlobungsring zu sehen. Alle wollen ihn bewundern. Und er ist bewundernswert. Weißgold umfasst einen wunderschönen, großen Diamanten in der Mitte. Das Ding muss ein beachtliches Sümmchen gekostet haben.
Melanie umarmt mich mit Tränen in den Augen. „Endlich kommst du unter die Haube. Wir können nun Nachbarn werden und Kinder bekommen.“ Darüber hatten wir in unserer Kindheit oft gescherzt. Jetzt wird es zur Wirklichkeit.
Daniels Eltern gratulieren uns herzlich und tun kund, wie gerne sie mich in ihrer Familie willkommen heißen. Wir scherzen über die gelungene Inszenierung ihres Sohnes. Danach geselle ich mich zu meiner Oma, die mit einem Liquor in der Hand an einem der Tische sitzt und das rege Treiben aufmerksam beobachtet.
„Na, mein Liebes, wie fühlst du dich?“, fragt sie mit durchdringendem Blick.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich es gar nicht“, muss ich zugeben. Gerade ist mir der Trubel etwas zu viel.
„Du wurdest fast ein bisschen blass um die Nase, als Daniel vor dir auf die Knie ging.“
„Es war ein wenig seltsam, alle Augen auf mich gerichtet zu wissen.“
„Sprichst du in deinem Beruf nicht oft vor vielen Leuten?“
„Das stimmt schon. Aber beruflich ist das was Anderes. Ein Heiratsantrag ist etwas Privates.“ Verlegen nippe ich am Champagner.
Sie nimmt meine Hand und betrachtet den Verlobungsring.
„Das ist ein sehr hübscher und teurer Diamant. Dennoch hat der Preis nichts mit dem Herzen zu tun. Ich hoffe, dieser Ring macht dich so glücklich wie der andere“, sagt sie und mustert mich um meine Reaktion.
Erschrocken starre ich sie an. Sie kann doch nicht dieses Thema hochbringen. Unpassender geht es kaum.
„Oma. Das gehört nicht hier her“, sage ich sachlich und räuspere mich.
„Wer weiß?“ Sie lässt von meiner Hand ab und zwinkert mir zu.
Was soll ich davon halten? Bevor ich etwas erwidern kann, kommen Julian und Mark zu mir, um sich zu verabschieden. Damit ist die Sache beendet.
Kapitel 2
Freitagnacht: 17. März, Chateau
Zur später Stunde haben sich die meisten Kollegen und Bekannten verabschiedet. Auch die engeren Familienmitglieder machen sich langsam auf. Meine Mutter zieht mich nochmals heran und versichert mir, wie überglücklich sie ist. Der zurückbleibende harte Kern bildet sich aus sechs Leuten, die sowieso oft zusammenhängen. Melanie mit ihrem Mann Christian, Nicole, Klaus, ein Studienfreund von Daniel, und wir: Das frisch verlobte Paar. Wir alle kennen uns seit einigen Jahren. Nur bei Melanie, Christian und mir reicht die Verbindung länger zurück.
Wir füllen unsere Gläser nochmal auf und fangen an, über die vergangenen wilden Jahre zu scherzen. Inzwischen ist viel Wein geflossen. Das macht die Geschichten um Jugendsünden umso lustiger. Christian scheint sich an die meisten Missgeschicke zu erinnern und erzählt die Storys so sarkastisch, dass wir bald anfangen, uns die Bäuche vor Lachen zu halten.
„Wisst ihr noch, als wir alle zusammen in Barcelona waren? Die Mädels sind schon ins Hotel zurückgegangen, aber Daniel, Klaus und ich wollten weiter trinken und suchten nach einer Bar, die noch geöffnet hatte. Sturzbetrunken sind wir über diesen massiven Gitterzaun geklettert. Nur, um festzustellen, dass wir uns auf dem abgeriegelten Hafengelände befanden.“
„Tja, ich kann mich vor allem an die Security erinnern, die uns hinausgeworfen hat“, erwidert Daniel.
„War das nicht dieselbe Nacht, in der du im Casino mal eben innerhalb von einer Stunde 3000 Euro verspielt hast?“, fragt Nicole gackernd an Klaus gerichtet.
„Yup“, antwortet er peinlich berührt. „Das war nicht glorreich.“ Peinlich ist ihm die Tatsache, dass er in festem Glauben war, dass auf die Pechsträhne eine Glückssträhne folgen müsste. Er spielte, bis wir ihn von den Automaten wegzogen. Arm wurde er vom Geldverlust nicht. In seiner Familie hängt das Geld eher dick.
„An das Drama vor zwei Jahren kann sich jeder erinnern, oder?“, fragt Klaus.
Ich verdrehe die Augen, denn es ist klar, welche Geschichte auf diese Frage folgen wird.
„Da fliegen wir alle nach Dublin, um Lenas Geburtstag gebührend am St. Patrick’s Day zu feiern, und dann verlieren wir sie über Stunden!“
„Es kann doch mal passieren, dass man sich verliert. Dumm war nur, dass Daniel ihr Handy hatte. Sie konnte sich nicht bei uns melden“, meint Nicole.
„Und außerdem haben wir uns ja am Abend wiedergefunden.“ Ich versuche, die Sache zu mildern.
„Nachdem wir stundenlang nach dir gesucht haben“, mault Christian.
Noch heute habe ich ein komisches Gefühl, wenn die Story aufkommt, wie sie mich in der Menschenmenge überall suchten. Bei der Parade. In den umliegenden Pubs. Dass Melanie und Christian sogar in unser Hotel hetzten, falls ich dort auftauchen würde. Aber ich erst am Abend dahin zurückkam.
Ich erzählte meinen Freunden damals, dass ich sie plötzlich nicht mehr finden konnte. Für eine Weile irrte ich im Tumult herum und feierte dann alleine mit der zelebrierenden Menschenmenge weiter. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit und auch diese ist etwas zurechtgebogen.
„Wir sind alle wieder gesund und munter zurückgekehrt. Das ist doch die Hauptsache“, schließt Nicole das Thema ab.
„Könnt ihr euch daran erinnern, als Nicole letztes Jahr darauf bestand, ihren neuen Freund in den Skiurlaub mitzubringen?“, fragt Christian jetzt.
„Oh, nicht doch. Nicht die Geschichte“, heult sie auf.
„Der Trip war schon seit Monaten gebucht, aber der Typ musste mit. Wie hieß er nochmal?“
„Andy“, kreischt Melanie.
„Der Verlierer hatte gar kein Geld für sowas. Du hast dem Idioten alles bezahlt“, wendet sich Christian an Nicole. „Und dann macht der beim Après-Ski mit dieser anderen Tussi rum und schiebt mit ihr ab. Wahnsinn. Was für ein Arsch.“
„Ja, ja. Aus Fehlern wird man klug“, sagt Nicole mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Na, ich weiß nicht, wie viele Fehler du brauchst, um mal an den Richtigen zu geraten“, kontert Klaus.
„Ist es nicht gerade deshalb so schön, dass wir heute hier sind, um ein wundervolles Paar zu feiern? Wenigstens gibt es Pärchen, bei denen alles glatt läuft“, schwärmt Nicole.
„Auf das schöne Paar. Auf eure Verlobung!“, ruft Melanie und die Gruppe hält die Gläser hoch.
„Ja wirklich!“, meint Christian. „Undenkbar, dass du damals beinahe den australischen Surferboy geheiratet hättest“, lacht er und nimmt einen Schluck aus seinem Glas.
Mein Magen dreht sich mit einem Ruck.
Hat er das gerade wirklich gesagt? Ausgerechnet jetzt und hier? Einige fragende Gesichter sehen mich an. Nur Melanie weiß davon und stand mir damals bei.
„Australischer Surferboy?“ Daniel lacht ungläubig.
„Wann warst du denn in Australien?“, fragt Klaus.
„Sah er gut aus?“, will Nicole wissen.
Muss Christian diese Geschichte aus der Schublade ziehen? Er weiß ohnehin nur Bescheid, weil er und Melanie schon damals zusammen waren.
„Das war vor langer Zeit. Ich war zwischen meinem Abiturabschluss und dem Studium für zwei Jahre in Australien.“
Ich nehme erstmal einen großen Schluck Rotwein, um mir ein paar Sekunden zu kaufen. Eigentlich bräuchte ich was Stärkeres.
Alle Blicke sind gebannt auf mich gerichtet. Das hier ist ja fast schlimmer, als vorhin beim Antrag. Wie soll ich diese lange und komplizierte Geschichte nur erklären?
„Er war kein Australier. Er kam aus Irland. Er war auch kein Surferboy, sondern Tauchlehrer. Wir waren beide jung und naiv. Mit meiner Abreise hatte es sich erledigt.“ Ich versuche die Emotionen so gut wie möglich von mir fernzuhalten und hoffe, dass der Informationshunger gestillt ist.
Christian, der sichtlich angetrunken ist, lässt mich aber nicht so leicht aus der Sache heraus.
„Wenigstens hast du dieses Mal einen echten Klunker bekommen und nicht nur ‘nen Ring aus dem Kaugummiautomaten“, grinst er.
Ist er total verrückt geworden? Betrunken oder nicht. Wie kann er so etwas sagen? Ich muss abwägen, ob ich ihn gleich erwürge.
Melanie rammt ihn ihren Ellenbogen in die Rippen. Nicht, dass er bemerken würde, wie schwierig das Thema für mich ist.
„Ein Ring aus dem Kaugummiautomaten?“ Klaus lacht auf. „Na, als Tauchlehrer ist er beruflich wohl kein Überflieger. Da bist du jetzt besser dran.“
Ich kann nicht fassen, was ich höre. Wie arrogant sind meine Freunde? Die überheblichen Worte lassen mir den Kragen platzen und ich fühle mich dazu verpflichtet, die damaligen Geschehnisse zu verteidigen.
„Der Ring kam nicht aus dem Kaugummiautomaten. Es war kein hochkarätiger Diamantring und hat tatsächlich nicht viel gekostet. Trotzdem bedeutete er mir alles. Wenn dir jemand sein Herz schenkt, dann spielt der materielle Wert eines Ringes keine Rolle.“ Ich strafe Klaus und Christian mit einem eisigen Blick und überlege fieberhaft, wie ich das Thema wechseln könnte.
Für einen Moment schließe ich die Augen und versuche durchzuatmen, aber es ist zu spät. Alles was ich sehen kann, ist dieses irre Grün. Zwei grüne Augen starren mich an. Sie gehören ihm.
„Wieso wolltet ihr heiraten?“ Mit dieser dummen Frage holt mich Daniel wenigstens wieder ins Hier zurück.
„Warum will man heiraten? Weil man sich liebt“, antworte ich etwas schroff. „Er wollte in Australien leben. Ich war mir unklar darüber, ob ich bleiben oder nach Hause zurückkehren sollte. Als ich abreiste, versuchten wir, die Beziehung aufrecht zu erhalten. Leider haben wir es nicht geschafft“, erkläre ich. „Ach, wir waren so verliebt.“ Die letzten Worte sind fast nur ein sanfter Hauch mit einem kleinen Lächeln. So lange Zeit habe ich nicht über diese Dinge gesprochen, habe mir nicht mal erlaubt darüber nachzudenken. Aber nun, in diesem Augenblick, kommen all die Erinnerungen zurück.
„Leider habt ihr es nicht geschafft?“ Daniel wiederholt meine Worte fragend.
Ich muss mir auf die Zunge beißen. So wollte ich das nicht sagen. Seine Augen wirken etwas schockiert und das tut mir fast weh. Er hat sicher gedacht, alles über mich zu wissen. Aber darüber habe ich mit niemanden gesprochen, nachdem es vorbei war.
„Was macht der Herr Tauchlehrer heute?“, fragt Klaus betont und stellt nochmals seine Überheblichkeit unter Beweis.
„Das weiß ich nicht. Wir haben keinen Kontakt. Er ist nur noch ein Geist aus der Vergangenheit.“ Mit einem großen Schluck leere ich das Weinglas.
„Wie hieß der Beachboy überhaupt?“, fragt Nicole.
„Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“, frage ich etwas lauter, als mir lieb ist und strecke mich, um mein Glas aufs Neue zu befüllen.
„Genau!“ Melanie kommt mir zur Hilfe. „Es gibt viel Interessanteres zu besprechen. Wann wollt ihr heiraten?“ Sie legt los und schon eine Minute später unterhält sich die Gruppe munter über die anstehende Hochzeit. Äußerlich setze ich ein lächelndes Gesicht auf. Innerlich bin ich aufgewühlt.
Was seit Jahren im Keller meines Gedächtnisses eingesperrt war, kommt mit rasendem Tempo an die Oberfläche. Der Mann, der mir einst sein Herz schenkte. Was ist aus ihm geworden?
Daniel scheint in seinem Element und schmiedet Pläne. Melanie und Nicole werfen mit Ideen um sich. Sogar die beiden Jungs Klaus und Christian tragen mit Anregungen bei. Hin und wieder nicke ich bei einem Vorschlag. Ich will interessiert zuhören. Es geht hier um meine eigene Hochzeit. Doch bei aller Mühe drifte ich dennoch ständig ab.
Daniel meint, dass er sich eine Feier in den wärmeren Monaten bei gutem Wetter wünsche. Meine Gedanken flattern fort zu den ersten Heiratsplänen. In Australien habe ich mir meist keine Sorgen über das Wetter machen müssen. Die Gruppe rückt zur Frage der Hochzeitslokalität vor und wirft mit Landguten und Schlössern um sich. In meinem Kopf spuken die Erinnerungen an die wunderschönen Sandstrände, die ich damals im Sinn hatte.
Es ist spät. Wir verabschieden uns alle und wünschen uns gegenseitig eine gute Nacht.
„Lasst es heute Nacht krachen, ihr zwei Turteltäubchen“, ruft Klaus und haut Daniel auf die Schulter.
Ich quetsche ein Lächeln heraus.
Melanie und Nicole wissen, dass ich seit dem Gespräch über meinen Ex in Australien nicht dieselbe bin. Auch Daniel nimmt dies wahr.
„Wenn du über irgendetwas reden musst oder was brauchst, ruf mich an“, flüstert Nicole mir ins Ohr, als sie neben mir auf ihr Taxi wartet.
Ich nicke müde. Heute will ich auf keinen Fall mehr reden. Ich muss erstmal selbst meine Gedanken ordnen. Vielleicht ist es normal, dass man bei solch einer glamourösen Verlobung vor so vielen Leuten innerlich in ein Durcheinander gerät. Eine gute Nachtruhe wird es richten. Morgen bin ich sicher etwas klarer im Kopf.
Das Taxi fährt uns durch die Nacht. Ich lehne mich zurück und Daniel greift nach meiner Hand.
„Na, wie fühlt sich die zukünftige Frau Andenburg?“ Sein warmer Atem dringt an mein Ohr.
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht. Ich hatte kaum Gelegenheit, die neue Situation wahrzunehmen. Nachdem er mir den Ring an den Finger gesteckt hat, kamen so viele Gratulanten auf mich zu. Alle wollten mit mir sprechen und ihre Glückwünsche äußern. Mir blieb keine Zeit zu reflektieren. Andererseits war dies der zweite Heiratsantrag in meinem Leben. Sollte ich dann nicht wissen, wie es sich anfühlt verlobt zu sein? Damals glaubte ich, auf Wolken zu schweben. Vielleicht liegt das am Alter. Ich war gerade mal 20 Jahre alt. Heute bin ich älter, reifer und nicht mehr so naiv.
„Gut“, sage ich, um Daniel eine Antwort zu präsentieren. Dennoch muss ich mir insgeheim eingestehen, dass sich in mir eine Unruhe ausbreitet. Dieses Gefühl gefällt mir nicht. Ich bin verlobt mit einem wundervollen Mann und trage einen fetten Diamanten am Finger. Sollte ich vor Glück nicht zerspringen? Was zum Teufel ist los mit mir?
Die Worte meiner Großmutter gehen mir wieder und wieder durch den Kopf. ‘Ich hoffe doch, dieser Ring macht dich so glücklich wie der andere’. Der andere Ring, der nicht viel gekostet hatte, mir aber alles bedeutet hat.
Schweigend fahren wir im Aufzug zu unserer Wohnung hoch. Daniel fängt an, mich zärtlich zu küssen. Oben angekommen wird er fordernder. Ich bin nur halbherzig bei der Sache, doch erwidere es, so gut es geht. Er schiebt mich aus dem Lift, den Flur entlang. Wir beide halten je eine große Tüte mit Geschenken und Banner in den Händen und der riesige Strauß Rosen muss auch gebändigt werden. Trotzdem scheinen seine Hände überall an mir zu sein. Ich versuche mein Bestes, um in Stimmung zu kommen, aber es will mir einfach nicht gelingen. Schließlich finde ich die Schlüssel zum Apartment und wende mich ab, um aufzuschließen. Und jetzt?
In der Wohnung stellt Daniel die Tüten auf dem Boden ab. Prompt plumpsen sie zur Seite und all die Geschenke und Dekorationen fallen heraus. Er beachtet es nicht und macht da weiter, wo er vor der Tür aufgehört hat. Stück für Stück knöpft er mein Kleid auf, während sich seine Lippen an meinen Hals schmiegen. Ich kann keine Lust aufbringen. Irgendwann ertrage ich es nicht mehr und entziehe mich.
„Ist alles okay?“ Daniel sieht besorgt aus.
„Ja. Ich gehe ins Badezimmer.“ Dort nehme ich mir viel Zeit, um mich abzuschminken, die Zähne zu putzen und die Haare aus der Frisur zu lösen. Als ich wieder herauskomme, trage ich bereits meinen Pyjama und schlüpfe so rasch ich kann ins Bett. Ich will nur schnell einschlafen. Morgen wird alles wieder normal sein.
Daniel kuschelt sich zu mir und gibt mir einige unmissverständliche Zeichen. Sanft streichelt er mir über den Oberschenkel. Vermutlich wäre Sex heute Nacht wirklich angebracht. Dieser Mann hat eine riesengroße Party für mich organisiert und mir einen hochkarätigen Ring an den Finger gesteckt. Trotzdem kann ich seine Nähe gerade nicht ertragen.
„Es tut mir leid. Ich bin nur so müde. Es war ein langer Abend. Können wir einfach schlafen?“
„Sicher.“ Er lässt von mir ab und dreht sich in die andere Richtung. Mir ist klar, dass er verstimmt ist. Aber er sagt nichts und ich belasse es dabei.
Daniel ist bald eingeschlafen. Ich höre es an seiner Atmung. Ich selbst liege wach, mit Millionen von Gedanken, die alle auf einmal durch meinen Kopf purzeln. Nur scheint nicht einer davon dem Tag angemessen zu sein.
Heute wurde ein Teil meines Lebens freigelassen, den ich so lange in mir weggeschlossen hatte. Eine glückliche Zeit. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich darüber gesprochen. Und all diese Erinnerungen rissen tausend Fragezeichen mit sich. Was macht er wohl heute? Er. Dessen Namen ich nicht genannt habe. Ist er in Australien geblieben, wie er es geplant hatte? Taucht er noch immer so leidenschaftlich gerne? Ist er glücklich mit irgendjemanden? Und wenn ja, lässt er das Herz dieser Frau so schnell klopfen, wie er einst meines rasen ließ?
Ich wälze mich von einer Seite zur anderen. Es hat keinen Sinn. Ich stehe auf und schleiche hinüber zum großen Kleiderschrank. So leise ich kann, öffne ich die Tür und fange an, unten bei den Schuhschachteln nach etwas zu suchen. Etwas, das ich lange nicht mehr angesehen habe. Ich weiß, wo es ist. Ich habe immer gewusst, wo es ist. Nur brachte ich es nicht fertig, es genauer anzusehen. Mit dem Licht meines Handys kann ich es schließlich finden. Ein alter Schuhkarton.
Ich nehme die Box heraus und verlasse das Schlafzimmer auf Zehenspitzen. Im Wohnzimmer knipse ich das Licht an und setze mich auf das Sofa. Die Box steht vor mir auf dem Schoß und ich starre sie an. Ob für zwei oder zwanzig Minuten, weiß ich nicht. Sie ist alt und ein wenig eingedrückt. Der einzige Nachweis, dass das alles wirklich passiert ist. Es ist so lange her und so gut verdrängt, dass es sich anfühlt, als hätte ich es mir nur eingebildet. Aber hier drin liegt der Beweis. Zwei Jahre meines Lebens sind in dieser Schachtel verwahrt.
Meine Finger gleiten über den Deckel. Eine innere Stimme fragt mich immer wieder, ob ich ihn wirklich anheben will. Zögerlich ziehe ich ihn weg. Sofort kommt ein geliebtes Erinnerungsstück zum Vorschein. Eine Schneekugel. Vorsichtig hebe ich sie auf und schüttle sie. Die australische Landmasse bildet das Kernstück und drum herum tanzen die Schneeflocken wild zusammen mit kleinen Schildkröten. Ich muss lächeln. Eins der schönsten Geschenke, die ich je bekommen habe. Nochmal wirble ich sie auf, verursache im Inneren einen Sturm. Einen tosenden Sturm, der damals auch in mir wütete.
Nachdem die Flocken und Schildkröten langsam wieder zur Ruhe kommen, stelle ich die Schneekugel auf dem Tisch ab und fahre mit dem Inhalt der Schachtel fort. Darin liegt eine Flut von Prospekten, Ansichtskarten und Quittungen. All die Erinnerungen an ein Leben in einem Land auf der anderen Seite der Welt befinden sich hier drin. Weiter unten ist mein Reisetagebuch untergebracht. Hunderte kleine Schnipsel und Belege ranken heraus. Und hier ist der Memorystick. Er birgt tausende Fotos, die nie entwickelt wurden, die es nie in ein Album geschafft haben, nie an die Oberfläche getreten sind. Ein Brief fällt mir ins Auge. Ich habe ihn nach der Trennung geschrieben. Er erreichte sein Ziel nie und blieb ungeöffnet. Ich lege ihn auf die Seite.
Darunter, ganz unten ist ein Packen mit Fotos in einem Kuvert. Vorsichtig nehme ich es heraus. Auf der Vorderseite klebt ein kleiner Post-it-Zettel, auf dem auf Englisch steht: ‘Ich liebe dich, meine Elfe’. Sofort zaubern die Worte ein Lächeln auf mein Gesicht.
Für eine gefühlte Ewigkeit starre ich auf den Umschlag. Das ist gefährlich. Was heute Nacht in mir entfesselt wurde, könnte durch diese Bilder stärker werden, als mir lieb ist. Immer wieder spiele ich mit dem Daumen an den Kanten und kann ihn doch nicht öffnen. Soll ich den Inhalt freisetzen? Soll ich ihn in mein Leben zurückholen, wenn es doch so schwer und schmerzhaft war, ihn endlich zu vergessen? Den Mann, den ich einst so sehr geliebt habe.
Jamie.
Da ist der Name. Zum ersten Mal seit langer Zeit forme ich die Buchstaben bewusst in meinem Kopf. Ich atme tief durch und öffne den Umschlag. Da ist er. Da sind wir beide und mein Herz schlägt schneller. Wahnsinn, dass er diesen Effekt immer noch hat. Langsam schaue ich mir ein Foto nach dem anderen an. Wir sehen so glücklich aus. Mal mit Tauchermaske, mal am Strand. Auf dem Memorystick sind unzählige Bilder von uns. Dies hier sind die Schönsten, die ich damals entwickeln ließ. Damals, als wir dachten, dass wir es schon irgendwie hinbekommen würden. Damals, als wir dachten, dass wir es schaffen. Er sieht umwerfend aus. Das tat er eigentlich immer.
Das letzte Foto ist ein besonderes. Es liegt mir noch mehr am Herzen, als die anderen. Mein Lieblingsfoto, obwohl es leicht verwackelt ist. Ich trage das zitronengelbe Kleid, das er so sehr an mir mochte. Auf meiner Hand sitzt eine frisch geschlüpfte Babyschildkröte. Eine Touristin hat den Schnappschuss gemacht und dabei etwa zehnmal auf den Auslöser gedrückt. Auf den ersten Aufnahmen sahen wir freundlich in die Kamera. Dann bewegten wir uns und lächelten uns liebevoll an. So entstand dieses Bild, das mir noch heute so viel bedeutet.
Der Gedanke streift mich, dass das Foto fast auf die Stunde neun Jahre alt ist. Was für ein seltsames Gefühl. Ich betrachte die Fotos für eine Weile. Jamies Augen wirken bis heute hypnotisch auf mich. Dieses irre Grün. Und seine dunkelblonden Wuschelhaare, in denen ich immer so gerne wühlte.
Plötzlich höre ich etwas in der fast leeren Schachtel herum kullern. Ich sehe nach unten. Da ist der Ring. Der Ring, der nicht viel kostete, mir aber alles bedeutete. Mein Verlobungsring. Vorsichtig nehme ich ihn heraus und betrachte ihn. Das Zentrum ist ein blauer geschwungener Stein, der aussieht wie ein Wassertropfen. Der Ring selbst wölbt sich drum herum und schmiegt sich daran. Der Stein ist nicht echt. Es ist Modeschmuck. Wir hatten damals kein Geld. Er sieht mitgenommen aus. Das viele Salzwasser hatte ihm nicht gutgetan und der Stein ist schon mehrmals herausgefallen. Es ist fast ein Glück, dass er nicht verloren ging.
Ohne es kontrollieren zu können, zieht meine rechte Hand Daniels Verlobungsring vom Finger der linken und steckt Jamies Ring an dessen Platz. Wie in Trance hebe ich meine Hand hoch und betrachte sie.
Die Verlobung mit Jamie war so ganz anders als die mit Daniel. Verschiedener könnten die beiden Männer nicht sein. Er fragte mich an einem einsamen Strand. Ich glaube, er war sich bis zum Schluss nicht sicher, wie ich reagieren würde. Wir waren ja so jung. Ich war so glücklich, als ich bemerkte, dass er mir einen Antrag machte. Wie das im tropischen Norden von Queensland so ist, setzte in dem Moment ein Platzregen ein und ich musste meine Antwort gegen den tosenden Regen rufen. Ich habe vor Freude geweint und etwa zehnmal ‘Ja’ gesagt.
Ich streife den Ring vom Finger und halte ihn sanft in der Hand. Ein Andenken, fest in meinem Herzen. Der Beweis, dass diese Verlobung geschehen ist und nicht nur ein Hirngespinst war.
Für eine Weile starre ich auf all die Erinnerungsstücke vor mir. So lange habe ich sie nicht angesehen.
Langsam versucht mein Verstand wieder Besitz von mir zu ergreifen. Was mache ich hier? Wie ist es überhaupt so weit gekommen? Was, wenn Daniel aufwacht und mich hier mit den Fotos sieht? Ich packe die Bilder zurück in den Umschlag und diesen zusammen mit all den anderen Dingen zurück in die Schachtel. Deckel drauf. Der gesunde Menschenverstand rät mir, die gesamte Box endlich loszuwerden. Wer hebt denn für Jahre die Andenken an den Ex auf? Trotzdem würde ich es nicht fertigbringen, die Sachen aufzugeben. Es tut schon weh, wenn ich nur daran denke. Für einen Moment sitze ich nur da und starre vor mich hin. Was hätte sein können, wenn …?