Prolog
Irgendwo bei Canterbury, Neuseeland
Ich kann nicht fassen, dass mir das passiert. Von allen Leuten ausgerechnet mir. Beim Gedanken an den Vorschlag, den ich noch vor einer Stunde machen wollte, muss ich lachen … Sarkastisch. Laut. Wütend. Wie dämlich konnte ich sein? Wie gelang diese irrwitzige Idee überhaupt in meinen Kopf? Vermutlich hatte ich all meine Sinne ausgeschaltet.
Ein Hupen lenkt mich von meinem Frust ab. Dem Lastwagen habe ich die Vorfahrt genommen. Die Geschwindigkeitsanzeige sagt mir, dass ich die Landstraße viel zu schnell entlang rase. Davon kann auch der entgegenkommende Verkehr ein Lied singen, der nun warten muss, da ich ohne Rücksicht auf Verluste über die schmale Brücke donnere, die den Rakaia River überquert. Die mächtigen Gebirgsspitzen von Mount Hutt und Mount Taylor ranken zu meiner Rechten in den Himmel, als ob sie mich mahnen wollten. Ich sollte meinen Ärger wohl lieber nicht so sehr am Gaspedal auslassen.
Aber ich musste weg. Weg von ihr. Ich hätte es keine Sekunde länger ausgehalten.
In der Vergangenheit bin ich schon oft ohne Gruß abgehauen. Niemals habe ich einen Gedanken daran verschwendet. Dieses Mal jedoch … Keine Ahnung. Es ist anders als sonst. Alles ist anders. Seit ihr.
Einige Wochen zuvor
1 – Lilly: Bonn
Endlich Freitag! Nein. Noch besser: Freitagabend.
Hastig laufe ich die Straße entlang. Es ist bitterkalt. Die eisige Januarluft verwandelt meinen Atem in Dampfwölkchen, und ich bin heilfroh, als ich mein Ziel erreiche. Das Fizzi ist eine angesagte Cocktailbar, in der ich meine beste Freundin Jasmin zur Happy Hour treffe. Ab zehn werden dann die Tische in der Mitte weggeräumt und die Musik aufgedreht.
Die Bar ist bereits brechend voll. Ich schiebe mich durch die Menschenmenge zu dem Platz, an dem wir immer sitzen. Jasmin ist schon viele Jahre treuer Stammgast, und ich komme seit einigen Wochen jeden Freitag her.
Meine Freundin winkt mir zu, als sie mich entdeckt, und widmet sich ihrem Gesprächspartner, der neben ihr sitzt. Keine Ahnung, wer der Typ ist, aber verwundert bin ich nicht. Jasmin ist weder schüchtern noch zurückhaltend. Ihr übertriebenes mädchenhaftes Kichern lässt mich ahnen, dass sie sich auf der Jagd befindet.
„Das ist meine Freundin Lilly“, stellt sie mich vor. „Und das ist Elias.“
Elias hebt die Hand. „Hi.“
Kurz flüstert er ihr etwas ins Ohr, was ihr wieder ein Kichern entlockt, dann steht er auf. „Wir sehen uns vielleicht nachher“, meint er zu uns beiden und macht sich auf den Weg zu einem anderen Tisch, an dem eine größere Runde von Leuten sitzt.
„Tun wir das?“, frage ich Jasmin und nehme ihr gegenüber Platz.
„Wer weiß?“ Sie zuckt grinsend mit den Schultern und guckt ihm hinterher, während er sich setzt. „Er ist süß, oder? Ich habe ihn gerade an der Bar kennengelernt. Er ist mit Freunden hier.“ Ein letztes Mal lächelt sie zu ihm hinüber und schlägt anschaulich ein Bein über das andere, bevor sie ihre Aufmerksamkeit von ihm losreißt. Zu viel Beachtung würde ‘Mann’ denken lassen, sie sei leicht zu haben, so sagt sie immer.
An Selbstbewusstsein mangelt es Jasmin nicht. Sie hat niemals Probleme, neue Leute kennenzulernen. Dass sie super aussieht, muss ihr keiner sagen. Lange Beine. Glattes blondes Haar. Und einen zierlichen Körper, den sie stets toll bekleidet. Seit unserer Kindheit sind wir beste Freundinnen, und sie war immer schon die lautere und frechere von uns beiden.
„Hi, Mädels, zweimal Sex on the Beach.“ Nina, eine der Kellnerinnen, stellt uns die Drinks vor die Nase und zwinkert uns zu. „Geht aufs Haus.“
Jasmin und ich nehmen die Gläser und prosten Kevin zu, einem der Barkeeper, der uns schon öfter ein Getränk ausgegeben hat. Er erwidert die Geste mit seinem Wasserglas und kümmert sich um den nächsten Gast.
„Ich sag dir was …“ Meine Freundin stöhnt und nimmt einen großen Schluck von ihrem Cocktail. „Endlich Freitag.“
„Oh, das kannst du laut sagen.“
„Endlich Freitag!“, ruft sie aus voller Kehle in die Runde, woraufhin ihr einige Leute in der Nähe zuprosten. Wimpernklimpernd erhebt auch sie ihr Glas und trinkt noch einmal. Dann lehnt sie sich zurück und stößt ihrem Atem theatralisch aus. „Was für eine Woche! Sie hat so stressig angefangen, wie die davor aufhörte. Und am Wochenende muss ich mich echt hinsetzen und büffeln. Kein bisschen übrig von der besinnlichen Zeit.“
Das stimmt. Weihnachten liegt noch nicht lange zurück, aber der Alltag hat uns schon wieder fest in seinen Fängen. Trotzdem hält sich mein Mitleid für Jasmin in Grenzen. Obwohl sie jammert, mag sie ihren Job in der Bank sehr. Sie arbeitet sich emsig hoch und schuftet nebenbei für ihr Masterstudium. Davon erzählt sie mir die nächsten zehn Minuten und sieht mich dann erwartungsvoll an. „Und bei dir so?“
Und bei mir so? In diesen Momenten beneide ich meine Freundin um ihre Energie und wünschte, ich könnte ein bisschen mehr sein wie sie. Irgendwie kann ich meinen Alltag nicht so bunt malen.
Ich zucke mit den Schultern. „Alles wie immer.“
„Warst du bis jetzt im Büro?“
„Ja. Ich musste einige Bilanzen fertigmachen. Zwei Mitarbeiter sind krank. Das bekommt man in einer kleinen Kanzlei sofort zu spüren.“
Sie wackelt mit den Augenbrauen. „Und als Tochter vom Boss musstest du wieder mal mehr Verantwortung zeigen als andere, stimmt’s?“
„Tja. So ist das nun mal.“ Ich nehme einen Schluck von meinem Cocktail.
„Ha. Dabei hat das Jahr so gut angefangen mit vielen guten Vorsätzen.“ Sie schenkt mir ein schiefes Grinsen und zieht die Stirn kraus.
Ich vergrabe den Kopf in meinen Händen. „Erinnere mich bitte nicht daran. Das ist mir immer noch so schrecklich peinlich.“
Vor drei Wochen hat Jasmin mich auf eine große Silvesterparty mitgeschleift. Ich hatte etwas über den Durst getrunken und bekam den Jahreswechsel nur verschwommen mit. Niemand konnte mir das übelnehmen. Es war das erste Silvester nach vielen Jahren, das ich als Single verbringen musste, nachdem ich zwei Monate zuvor überraschend – zumindest für mich – verlassen wurde. Keine Ahnung, was in mich gefahren war, aber plötzlich wurde ich ziemlich melancholisch. Dazu die Wut auf … Ja, auf was eigentlich? Wahrscheinlich auf mich selbst. An den Beziehungsrhythmus und die Routine, die Raphael und ich uns aufgebaut hatten, war ich so sehr gewöhnt, dass ich nach dem Aus unserer Beziehung nicht wusste, wie ich ohne ihn leben konnte. Ich war nicht gut im Alleinsein. Das bin ich immer noch nicht und bemerke oft, wie leer ich mich fühle. Unerfüllt. Ohne Antrieb.
An jenem Abend nahm dieses Gefühl überhand, und ich kletterte sturzbetrunken auf einen Tisch und verkündete so laut ich konnte, dass ich im neuen Jahr mein Leben umkrempeln würde. Dass ich keinem Mann mehr erlauben werde, mich zu einem Häufchen Elend zu reduzieren. Und dass ich mich selbst verwirklichen wolle. Was auch immer das heißen mag. Ich war eben betrunken. Diese Vorsätze kamen auf der Party natürlich gut an. Einige Leute jubelten mir sogar zu. Ich bin heilfroh, dass ich mich nicht klar daran erinnern kann.
„Das war doch nicht peinlich“, widerspricht Jasmin. „Vielleicht ein wenig untypisch für dich. Aber sehr inspirierend. Du solltest dich an deine eigenen Worte halten.“
Ich verdrehe die Augen. „Inspirierend? Ich war betrunken.“
„Ein Sprichwort sagt, dass im Wein die Wahrheit liegt.“
„Ich geh doch schon jeden Freitag aus und mische mich unters Volk.“ Einen trotzigen Unterton kann ich gerade noch vermeiden. Bis vor drei Monaten war der Freitagabend Pärchenzeit auf dem Sofa. Jetzt muss ich mich auf dem Singlemarkt behaupten. So sagt Jasmin zumindest.
„Ausgehen und nicht auf der Couch versauern, ist ein Anfang. Aber du hast davon gesprochen, dich verwirklichen zu wollen. Das solltest du tun. Und damit meine ich nicht, dass du dir einen Mann zulegst. Es geht um dich. Willst du nicht mal nach Kursen schauen, wie du es früher gemacht hast?“
Nachdenklich spiele ich mit meinem Strohhalm im Cocktailglas. Während meines Wirtschaftsstudiums habe ich hin und wieder Kurse und Vorlesungen besucht, die mit Finanzen wenig zu tun haben. Kunst, Fotografie oder auch Design. Das machte mir einfach Spaß und war ein Ausgleich.
„Das ist ein schöner Vorschlag, aber für solche Hobbys fehlt mir momentan die Zeit. Schon gar nicht so kurz vor dem Urlaub.“
„O ja, der Urlaub“, trällert sie.
Wusste ich doch, dass ich damit das Thema leicht wechseln kann. Leider sind unsere Cocktails schon ausgeschlürft. Wir brauchen neue, bevor wir uns diesem Gespräch ausführlich widmen können.
„Ich hole uns schnell Nachschub“, biete ich an, da Nina gerade viel zu tun hat. Ich trete zur Bar hinüber, ordere zwei Mai Tai und warte artig, bis Kevin Zeit hat, sie zu mixen.
„Lilly, hi.“ Eine sehr vertraute Stimme jagt mir eine Gänsehaut über meinen Körper. Ich fahre herum und blicke in ein ebenso vertrautes Gesicht. Eines, das ich seit dem Ende unserer Beziehung nicht mehr gesehen habe.
„Rapha“, stoße ich aus. Zu kratzig. Ich räuspere mich. „Raphael“, sage ich nun gefasster. Mein Herz rast, und ich hoffe wirklich, dass er mir das nicht ansehen kann. „Was machst du hier?“
Was für eine dämliche Frage. Es ist Freitagabend, und diese Bar ist sehr angesagt. Ich beiße mir auf die Zunge.
Er blickt mich verhalten an. „Äh … Ein paar Leute aus dem Büro wollten was trinken gehen, und irgendjemand hat das Fizzi vorgeschlagen.“ Raphael deutet auf einen der hinteren Tische, an dem ich einige seiner Arbeitskollegen erkennen kann. „Sorry, ich habe irgendwie nicht …“ Er beendet den Satz nicht, sondern zuckt entschuldigend mit den Schultern, als ob ihm nie in den Sinn gekommen wäre, dass wir uns irgendwann mal über den Weg laufen könnten.
„Ist nicht meine Bar“, sage ich kurz und knapp.
Einen Moment lang stehen wir peinlich berührt da und scheinen beide nicht zu wissen, wie wir weitermachen sollen.
„Wie geht es dir, Lilly?“ Er reibt sich mit der Hand über den Hinterkopf, was er immer tut, wenn er sich unsicher fühlt. Ich kenne ihn gut.
„Bestens.“
„Du siehst toll aus.“
„Danke. Du auch.“
Tut er tatsächlich. Wenn ich mich nicht täusche, hat er ein paar Pfund weniger auf den Rippen. Ich auch. Unsere Trennung hat mir ziemlich zugesetzt.
„Wann geht es auf die große Reise? In zwei Wochen, nicht wahr?“
Er spielt auf die Neuseelandreise an, die wir im Herbst letzten Jahres gemeinsam gebucht und geplant hatten. Als ich nach einem schönen Reiseziel suchte, in dessen Zeitfenster unser zehnter Jahrestag fallen würde, schlug meine Mutter Neuseeland vor. Meine Familie hat ein besonderes Verhältnis zu diesem Land. Mamas beste Freundin wohnt dort. Als ich klein war, haben wir sie besucht, doch viel weiß ich von dieser Reise nicht mehr. Ich wollte mit Raphael neue Erinnerungen schaffen. Zum Zeitpunkt der Buchung war ich so aufgeregt und hatte mir ausgemalt, wie wir im Fjordland von Milford Sound auf unser Zehnjähriges anstoßen würden oder auch im Abel Tasman Nationalpark. Aber letzten November setzte sich Raphael neben mich aufs Sofa im Wohnzimmer unserer gemeinsamen Wohnung und sagte: „Wir müssen reden.“
Drei Worte, die den Anfang eines Gesprächs präsentierten, das mir den Boden unter den Füßen wegzog. Mit fünfzehn waren wir zusammengekommen. Nun, mit fünfundzwanzig, fühlte er sich plötzlich zu jung für eine feste Bindung. Zumindest nannte er das als Trennungsgrund. Wir seien zu festgefahren. Er brauche mehr Raum für sich. Es liege nicht an mir. Blablabla. Ich habe gefleht und gebettelt, doch es nützte nichts. Raphael hatte seine Entscheidung getroffen. Für mich kam sie aus dem Nichts. Mehrere Wochen litt ich wie ein Hund. Ich kannte nichts anderes, als in einer Beziehung zu sein.
„Eigentlich sind es nur noch elf Tage“, sage ich jetzt zu ihm. „Ich freu mich sehr darauf.“ Und das meine ich inzwischen wirklich so. Im ersten Schock konnte ich mir nicht vorstellen, die Reise anzutreten. Es gab so viele Dinge, die ich mir ohne Raphael nicht vorstellen konnte. Alles.
„Hat Jasmin das Ticket auf ihren Namen umbuchen können?“, fragt er.
„Ja. Auch sie ist schon ganz aufgeregt.“
Meine beste Freundin hat mich vom Boden gekratzt und wiederaufgebaut. Sie hat nicht nur geduldig zugehört und mir Mut zugesprochen, sondern mich auch bestärkt, die Reise anzutreten. Mit ihr. In ihrer Firma erkämpfte sie sich vier Wochen Urlaub, und jetzt trennen uns nur noch wenige Tage von unserem Flug.
„Toll.“ Er nickt und sieht fast so aus, als bereue er es nun doch, nicht mitzufliegen. „Ich wünsche euch beiden ganz viel Spaß. Lass es dir gutgehen, Lilly.“
„Danke. Das werde ich“, sage ich kühler, als ich es vorhatte.
„War schön, dich zu sehen.“ Kurz schenkt er mir ein halbes Lächeln und blickt mich ein bisschen sentimental an.
„Ja. Mach’s gut.“
Wir nicken uns zu, und er geht hinüber zu seinem Tisch.
Kevin hat mir inzwischen die Mai Tais vor die Nase gestellt, und somit kehre ich zu meinem Platz zurück.
Als ich Jasmin erreiche, guckt sie mich mit großen Augen an. „Alles in Ordnung? Ich meine, wegen Raphael?“
„Ich denke schon“, murmle ich, und zu meiner eigenen Überraschung ist dies keine tapfere Lüge. Ohne Frage klopft mir mein Herz bis zum Hals, aber ist das nicht normal, wenn man auf den Ex trifft?
„Die Umstände waren wenigstens günstig“, stellt sie fest.
„Was meinst du damit?“
„Na, wenn man dem Ex begegnet, der einem das Herz gebrochen hat, will man ihm zeigen, was er sich entgehen lässt. Du siehst heute super aus. Speziell, wenn du deine lange rote Mähne offen und wild trägst.“ Sie greift sich eine Strähne und zieht sanft daran.
Ich schmunzle und erzähle ihr kurz von meiner Unterhaltung mit Raphael. Im Großen und Ganzen bin ich tatsächlich stolz auf mich. Hätte ja auch sein können, dass ich zusammenbreche und ihn hysterisch bitte, zu mir zurückzukommen.
„Er sah etwas bedrückt aus, findest du nicht?“, merkt Jasmin an.
„Ja. Ist mir auch aufgefallen.“ Also habe ich mir das nicht nur eingebildet.
„Selbst schuld, wenn er so eine tolle Frau wie dich verlässt.“ Sie hebt ihr Cocktailglas in die Höhe und prostet mir zu.
Während ich von meinem Drink nippe, kann ich mir einen verstohlenen Blick zu Raphael nicht verkneifen und wünschte schon gleich, ich hätte es nicht getan. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber gerade ist er in ein sehr intensives Gespräch mit einer seiner hübschen Kolleginnen verwickelt.
Jasmin greift nach meiner Hand. „Hey. Hör auf, dich seinetwegen verrückt zu machen.“
„Es tut eben noch immer weh“, sage ich kaum hörbar. „Raphael hat sich von mir getrennt, weil er seine Freiheit wollte, damit er bei Gelegenheiten wie heute flirten kann, wie er will.“
„Ich ordere einen sofortigen Themenwechsel an.“ Jasmin lehnt sich zu mir. „Wie geht’s denn der lieben Silke?“
„Och, um die musst du dir keine Sorgen machen. Sie ist wie immer voller Tatendrang.“ Seit der Trennung von Raphael lebe ich wieder bei meiner Mutter. Das ist kein großes Problem, da wir ein sehr gutes Verhältnis haben, aber natürlich ist das Finden einer eigenen Wohnung auch einer meiner Vorsätze für dieses Jahr. „Dabei fällt mir ein, sie liegt mir in den Ohren, mir Fotos von unserem damaligen Familienurlaub in Neuseeland zeigen zu wollen.“
„Klingt doch nett. Lass dich inspirieren.“
„Sie hat gefragt, ob du sie auch ansehen möchtest.“
„Oh. Familienalben.“ Jasmin macht ein abwägendes Geräusch und knabbert an der Orange, die als Cocktaildeko gedient hat. „Also gut. Wie wäre es mit nächsten Samstag zum Frühstück? Als Einstimmung kurz vor dem Abflug? Dann könnten wir danach noch ein bisschen Bikinishoppen gehen.“
„Du und Frühstück?“
Jasmin ist wahrlich kein Frühaufsteher.
„Ja. Weil Silke immer die tolle selbstgemachte Himbeermarmelade auftischt.“
Ich lache, denn das ist sicher nicht der einzige Grund. Jasmin versteht sich blendend mit meiner Mutter und ist fast wie eine zweite Tochter für sie.
„Na, Ladys.“ Jasmins Flirt von vorhin steht vor uns und hat einen Freund mitgebracht.
„Oh, hallo.“ Sie setzt ein zuckersüßes Lächeln auf und winkt mit den Fingerspitzen.
„Unser Tisch wurde gerade zugunsten der Tanzfläche aufgelöst. Da dachten wir, wir kommen mal rüber.“
Überrascht werfe ich einen Blick auf die Uhr. Tatsächlich ist es schon gleich zehn Uhr, und das Personal verwandelt das Fizzi in eine Tanzbar.
„Wie schön. Setzt euch“, bietet Jasmin an und wendet sich flüsternd an mich. „Passt doch, oder? Die zwei Jungs sehen nicht schlecht aus, und Raphael bekommt das sicherlich auch mit.“ Sie zwinkert mir zu.
Kurz bin ich perplex, aber Zeit, um etwas zu erwidern, bleibt mir ohnehin nicht. Die Männer lassen sich nieder. Der Fremde stellt sich als Leon vor, und als er den anderen mit Namen anspricht, erinnert er mich daran, dass es Elias war. Ich bin mir nicht sicher, ob Jasmin das noch gewusst hätte.
Galant spendieren die beiden uns neue Cocktails. Ein paar Minuten widmen wir uns Small Talk, doch dann dreht der DJ die Musik auf. Ein Gespräch unter vier Leuten ist nicht mehr möglich. Jasmin flirtet mit Elias, während Leon sich mir zuwendet.
„Was machst du sonst so, wenn du nicht in einer Cocktailbar abhängst?“, will er wissen.
„Na ja, in der Woche tue ich ganz verrückte Dinge wie arbeiten.“ Ich grinse ihn schief an. „Und sonst?“ Ich überlege. Keine Ahnung, was ich ihm erzählen soll. Kommt mir gerade alles so gestellt vor. Immerhin ist er herübergekommen, weil ihn sein Freund hergeschleift hat. Das Flirten muss ich echt mal ein bisschen üben.
Leon lacht. „Okay. Was arbeitest du denn?“
„Ich bin Steuerfachangestellte.“
„Ah.“ Er macht eine Pause, und ich muss schmunzeln. Vermutlich gibt es Aufregenderes. „Kommst du oft hierher?“
„Manchmal.“ Ich nehme einen Schluck von meinem Cocktail und drehe das Fragespielchen um. „Was machst du denn so, wenn du nicht in Bars herumhängst?“
Das Konzept der Gegenfrage erweist sich als erfolgreich. Leon spricht sehr gern über sich und erzählt mir die nächste halbe Stunde von seiner Karriere als Immobilienmakler. Ich muss tatsächlich nicht viel sagen, sondern nur hin und wieder ‚Oh‘ oder ‚Ah‘ ausstoßen.
Mein Blick streift von Zeit zu Zeit zu Raphael hinüber. Ob er die Männerpräsenz an meinem Tisch wahrgenommen hat, kann ich nicht feststellen. Jedenfalls unterhält er sich nach wie vor angeregt mit der Frau neben ihm.
In der Mitte des Lokals tanzen inzwischen immer mehr Leute, und die Luft wird stickiger. Schon bald bestellt Leon weitere Cocktails für uns, und ich mache mir gedanklich die Notiz, dass dies mein letztes Getränk sein soll. Jasmin hängt längst mit großer Intensität an Elias’ Lippen. Engumschlungen knutschen sie auf der Bank und scheinen alles um sich herum vergessen zu haben.
Leon legt seinen Arm um meine Schultern und lässt mich damit ahnen, dass er ihrem Beispiel folgen möchte. Anstatt Vorfreude macht sich in meinem Inneren ein zögerliches Seufzen breit. Will ich ihn küssen?
Am Silvesterabend vor drei Wochen hat Jasmin dafür gesorgt, dass ich nicht ohne eine anständige Knutscherei ins neue Jahr feiere. Sie wollte, dass ich Raphael abhake und nach vorne blicke. Ich habe keine Ahnung mehr, wie der Typ geheißen hat, den sie plötzlich an meine Seite schubste, aber das ist auch nicht wichtig, denn der Kuss war … Ich weiß nicht. Tollpatschig? Ungeschickt? Irgendwie stießen ständig unsere Zähne aneinander. Er schien sich daran nicht zu stören, doch ich war total irritiert. Der Kerl war der erste Mann, den ich nach Raphael küsste, und dann so was. Ich fragte mich, ob mein Mund vielleicht nach all den Jahren auf meinen Ex-Freund geeicht war. Oder war ich zu betrunken? Oder war er schlicht ein schlechter Küsser? Oder ich?
Möglicherweise könnte Leon mir dabei helfen, das herauszufinden.
Als ich meinen Blick von Jasmin und Elias losreiße und zu ihm sehe, lehnt er sich bereits zu mir, und seine Lippen treffen fast wahnwitzig zufällig auf meine. Ich brauche einen Moment, um mich an den Kuss zu gewöhnen. Erfreut stelle ich fest, dass meine Zähne nicht gegen seine stoßen. Pluspunkt. Aber seine Zunge dringt für meinen Geschmack viel zu forsch in meinen Mund vor. Wo will die denn hin? In meinen Magen? Minuspunkt.
Ich versuche, darüber hinwegzusehen und mich fallen zu lassen. Es muss mir doch irgendwie möglich sein, Raphael beiseitezuschieben und einen unverbindlichen Kuss zu genießen. Dass Leons Hände bereits an meinem Hintern angekommen sind, entgeht mir nicht. Er geht ziemlich ran, obwohl wir uns gefühlt seit fünf Minuten kennen und mitten in der Bar sitzen.
Wenn Jasmin meine Gedanken lesen könnte, würde sie sich totlachen. Ich bin eben ganz anders als sie. Vielleicht zu romantisch. Keine Ahnung. Aber das hier bringt mir nichts. Einen Moment überlege ich, wie ich aus der Sache herauskomme, doch dann schiebt Leon seine Hand unter mein Shirt. Das ist zu viel.
Ich löse mich von ihm und setze mich auf. „Ich muss leider los.“
„Was? Echt?“ Er guckt mich verdattert an.
Mit einem Schluck leere ich meinen Cocktail und erhebe mich.
Jasmin blickt auf. „Jetzt schon?“
„Ja. Ich will morgen ein paar Sachen für die Reise erledigen. Daher möchte ich heute nicht so lange machen“, improvisiere ich und nehme meine Handtasche.
Eigentlich muss ich nur zu dem Buchladen, um den Reiseführer für Neuseeland abzuholen, den ich dort bestellt habe.
„Ich komme mit“, ruft Jasmin mir zu und flüstert Elias noch ein paar Kleinigkeiten ins Ohr.
Wir verabschieden uns. Die beiden Männer geben sich enttäuscht und händigen uns ihre Telefonnummern aus.
Einen kleinen Seitenblick zu Raphael kann ich mir nicht verkneifen. Doch er sitzt nicht mehr an seinem Tisch. Dort haben sich inzwischen andere Leute niedergelassen. Ob er Leon und mich wohl gesehen hat? Plötzlich fühle ich mich bei dem Gedanken unbehaglich.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt Jasmin, als wir uns fünf Minuten später in dicke Jacken gehüllt auf der Straße befinden.
„Ja. Alles gut. Du hättest ruhig noch bleiben können.“
Um elf geht der Abend für meine Freundin normalerweise erst richtig los.
„Lass mal. Ich will am Wochenende wirklich ein paar wichtige Sachen für die Uni lernen. Nächste Woche noch die Klausur, und dann kann der Urlaub kommen. Außerdem habe ich ja Elias’ Nummer.“
Wir machen uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Ich ziehe meinen Schal enger und hole meine Handschuhe heraus. Es ist bitterkalt.
„Die zwei Jungs waren ziemlich nett. Und sie sahen gut aus.“
„Hmhm.“
„Hmhm – was?“
Ich seufze. „Da gibt’s nicht viel zu sagen. Leon war einfach nichts für mich.“
„Woher willst du das wissen? Ihr habt euch nur ein Stündchen unterhalten, mehr nicht.“
Na ja. Unterhalten ist das falsche Wort. Er hat über sich geredet und das für meinen Geschmack ein bisschen zu gerne. Allerdings kann ich das nicht als Argument gegen ihn verwenden, denn ich hatte das Thema selbst auf ihn gelenkt.
„Oder war er ein schlechter Küsser?“ Jasmin stupst mir mit der Hüfte in die Seite.
„Hm“, murre ich. „Ein Feuerwerk war es nicht gerade.“
Meine Freundin bleibt stehen und sieht mich tadelnd an. „Ich hoffe, du vergleichst nicht alle Männer mit Raphael.“
Ich drehe mich zu ihr um. „Nein. Tu ich nicht.“
„Bestimmt war nicht jeder seiner Küsse ein Feuerwerk.“
„Nein. Das nicht. Aber ihn kannte und vertraute ich. Mit Leon …“ Ich stocke. „Ich habe einfach nichts gefühlt.“
„O Mann, Lilly.“ Jasmin verdreht die Augen. „Ich sagte ja nicht, dass du ihn gleich heiraten sollst. Nur ein bisschen Spaß. Dann kommt das Prickeln von ganz allein.“
Das wage ich zu bezweifeln.
Sie kann meinen Gesichtsausdruck deuten und stöhnt genervt auf. „Für dich muss es wirklich gleich ein Feuerwerk sein, hm?“
2 – Finn: Im Gebirge bei Otago
„Das war ne Supertour. Werde ich so schnell nicht vergessen“, bedankt sich einer der Touristen und klopft mir auf die Schulter.
„Gerne. Mir hat es Spaß gemacht, und ich hoffe, euch auch“, wende ich mich an die sechs Insassen meines Bootes. „Selbst wenn ich euch oft angebrüllt habe.“
Wir lachen, denn natürlich war mein Brüllen Kommandos, die ich laut geben musste, damit wir den Fluss sicher herunterkommen. Das Wasser zeigt einem immer wieder eindrucksvoll, wie stark und mächtig die Natur ist. Schnelle Strömungen, spitze Felsen und wirbelnde Wellen. Gutes Teamwork ist gefragt, und das hatten wir heute. Meine Gruppe steht jedenfalls zufrieden am Flussufer und tauscht sich über den Kick aus, den ihnen der Ausflug verpasst hat.
„Wie lange machst du schon Raftingtouren?“, will die kleine Engländerin mit den pinken Haaren wissen. Ihr Name ist Amy. Den ganzen Tag hat mich ihr britischer Akzent amüsiert. Sie selbst sieht mit ihren zahlreichen Piercings und Tattoos gar nicht so vornehm aus, wie sie klingt.
„Einige Jahre. Aber nicht schon immer für Riverside, sondern für unterschiedliche Anbieter auf verschiedenen Flüssen. Hier eine Saison, dort eine Saison. Wo es mir gerade gefällt.“
„Ach ja? Und was treibst du dazwischen?“ Sie grinst mich anzüglich an.
„Alles Mögliche.“ Ich zwinkere ihr zu und überlasse es Amys Fantasie, was sie daraus macht.
„Unser Finn ist ein Mann mit vielen Interessen“, mischt sich Matt ein, der ebenso wie ich beim Raftinganbieter Riverside arbeitet und eine Gruppe von Abenteurern den Fluss hinuntergeführt hat. Er klopft mir auf die Schulter. „Nicht wahr? Rafting, Bungeejumping, Mountainbiking. Paragleiten.“
„Wow. Ich liebe sportliche Männer.“ Amy leckt sich über die Lippen.
Ich lache. Schon auf der Tour hat sie ständig ziemlich direkt mit mir geflirtet.
Bevor Amy in den Bus hüpft, der sie und die anderen Touristen zurück nach Queenstown bringen wird, drückt sie mir ein Küsschen auf die Wange. „Ich habe dich auf Instagram abonniert und dir eine Nachricht geschickt. Ein oder zwei Tage werde ich sicherlich noch in der Stadt bleiben. Vielleicht sieht man sich mal.“
„Logo“, antwortet Matt für mich, während wir uns bereits an die Aufräumarbeiten machen und die Ruder, Helme, Schwimmwesten und Neoprenanzüge auf unseren Anhänger laden, damit die Ausrüstung morgen für die nächste Gruppe von abenteuerlustigen Leuten bereitsteht. „Komm heute Abend in die kleine Hütte. Ist ein Pub in Queenstown, direkt am See.“
„Okay. Bis dann.“ Mit einem breiten Grinsen steigt sie ein und winkt kräftig bei der Abfahrt.
„Schönen Dank.“ Ich klopfe Matt auf den Rücken. „Suchst du jetzt meine Dates für mich aus?“
„Die sieht doch ganz niedlich aus und steht total auf dich. Ich hatte zwei hübsche Schweizerinnen an Bord, und die kommen heute Abend auch.“ Er zupft an seinem Spitzbart und rückt die Sonnenbrille hoch. „Oder hast du schon was anderes am Brutzeln?“
„Nein.“ Ich schüttle den Kopf. „Bei der wird es eher spannend, wer wen abschleppt.“
Er lacht herzhaft auf, während ich meine Konzentration zurück auf die Arbeit richte.
„Lass uns schneller machen, sonst kommen wir sowieso nicht weg.“
Vorsichtig tragen wir die Schlauchboote vom Ufer zum Anhänger und laden sie auf. Danach fahren wir das Equipment zum Ausgangspunkt, von dem die Raftingtouren starten, und reinigen es. Nun steht die Ausrüstung für morgen bereit und wir sind endlich auf dem Weg in die Stadt.
„Wo ist Rory eigentlich?“, möchte Matt wissen.
„Der ist für ein paar Tage nach Christchurch gefahren.“
„Ach ja?“ Er rückt seine Augenbraue höher und guckt mich fragend an.
„Sein Studienkram geht bald los. Nach WG-Zimmern wollte er sich auch umsehen.“
„Dein Bruderherz macht Ernst, hm?“
„Es sieht so aus.“ Ich zwinkere ihm zu und setze ein Grinsen auf, das nicht echt ist. „Aber mal sehen, wie lange. Der ist schneller wieder in Queenstown, als du Tâwhirimâtea und Tangaroa sagen kannst.“
Matt lacht. „Na, hoffentlich. Finn ohne Rory. Das käme mir irgendwie komisch vor.“
Mir auch. So war es immer gewesen. Rory und Finn. Als eineiige und fast identische Zwillinge waren wir unser ganzes Leben nur im Doppelpack zu haben. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben unsere Eltern, Geschwister und Lehrer gemeinsam auf die Palme getrieben, wollten miteinander studieren, schmissen nach einem Jahr hin. Danach reisten wir erst in Neuseeland umher, dann in Australien, bevor wir viele Teile von Asien unsicher machten. Zwischendurch jobbten wir. Immer auf Achse. Immer ein Abenteuer im Sinn. Niemals stillstehen. Von White Water Rafting über Bungeejumping bis hin zu Snowboarden und vieles mehr. Als Guide zu arbeiten und Geld mit unseren Hobbys zu verdienen, empfanden wir als Sechser im Lotto. Eine Saison hier, die nächste woanders, und dazwischen ganz viel Blödsinn. Bei den Ladys haben wir auch kein unglückliches Händchen. Kurz: Alles lief super.
Bis vor ein paar Monaten hatte ich gedacht, dass Rory das genauso sieht. Aber dann äußerte er vermehrt den Gedanken, eventuell doch noch mal ein Studium ausprobieren zu wollen. In Richtung Naturwissenschaften. Erst lachte ich und dachte, es sei nur eine alberne Idee. Als Zwillinge hatten wir bisher in unserem Leben meist eine ähnliche Einstellung, und ich konnte den Wunsch, eine Uni aufzusuchen, nicht verspüren. Rory scheinbar schon. Nun wird er Queenstown bald verlassen und im kommenden Semester an der Universität in Christchurch studieren.
„Wenigstens kann er dann unsere Eltern jedes Wochenende besuchen. Die wohnen nicht weit entfernt“, scherze ich, während ich den Wagen die kurvige Straße aus dem Gebirge lenke.
„Wenn du einen neuen Mitbewohner suchst, sag Bescheid. Da finden wir bestimmt jemanden.“
„Danke. Ich muss mal sehen, wie es bei mir weitergeht. Vielleicht lasse ich Riverside und Queenstown bald hinter mir. Dann gebe ich die Wohnung sowieso auf.“
Genau weiß ich das noch nicht, aber irgendwie mag ich den Gedanken nicht, derjenige zu sein, der zurückbleibt. Lieber ziehe ich ebenfalls weiter. Wenn es auch zum ersten Mal ohne Rory sein wird.
„Aber die Snowboardsaison machst du noch mit, oder?“ Matt krault seinen Spitzbart.
„Klar doch. Im Juni geht es in die Berge. Das ist sicher.“
Er nickt zufrieden, denn auch er wird über die Wintersaison als Snowboardlehrer arbeiten. Letztes Jahr hatten er, Rory und ich dort eine verrückte Zeit.
„Was wird eigentlich aus eurem YouTube-Kanal, wenn es die Thompson Twins nicht mehr zusammen gibt?“
„Der läuft weiter. Wir haben ja früher auch ein paar Sachen getrennt unternommen.“ Das wäre ja noch schöner! Als The Thompson Twins filmen wir unsere Abenteuer und gelegentlichen Schandtaten schon sehr lange und haben uns inzwischen einen soliden Kanal und eine Fanbase aufgebaut. Das werde ich nicht einfach so aufgeben. An meinem Helm ist immer eine Kamera montiert. „Außerdem glaubst du nicht, wer sich bei mir gemeldet hat“, füge ich an und schenke Matt einen entsprechenden Blick.
„Soll ich jetzt Trommelwirbel machen?“, fragt er mit hochgezogener Augenbraue.
„Ash von Ashleigh’s World.“
„Oha. Die Social-Media-Ash?“
„Genau die. Sie kommt in die Gegend und möchte mit Rory und mir zusammen filmen.“
Sie ist Australierin und unterhält einen beliebten YouTube-Kanal. Nebenher hat sie zigtausend Follower auf allen möglichen Social-Media-Plattformen. Dort zeigt sie ihre Reisen, die inzwischen über die ganze Welt verteilt sind, und filmt ihre Eindrücke. Sie ist mindestens so verrückt drauf wie mein Bruder und ich. Die Zusammenarbeit mit ihr wird der Wahnsinn, und ich kann’s kaum erwarten.
„Das ist ja ein Ding!“
„Jup. Eine Kooperation. Das wird irre! Wir haben schon genaue Ideen im Kopf. Jetzt müssen wir nur noch die Termine festlegen.“ Mit breitem Lächeln parke ich den Wagen vor dem Riverside Center in der Stadt. Schnell melden Matt und ich uns vom Dienst ab, verabschieden uns voneinander und machen uns auf den Weg nach Hause.
***
Als ich die Tür zu Rorys und meiner Wohnung öffne, stelle ich überrascht fest, dass diese nicht leer ist. Rory kommt aus der Küche und hält ein fettes Sandwich in der Hand.
„Hi. Du bist schon zurück?“, frage ich.
„Hmhm. Gerade eben“, antwortet er mit vollem Mund.
„Hast du bei Mum nichts zu essen bekommen?“
„Ist bereits sechs Stunden her. Die Fahrt hat ewig gedauert. Wie war dein Tag?“
Ich erzähle ihm von meiner Raftingtour. Nur ein Teilnehmer ist über Bord gegangen, und wir haben ihn sofort wieder aus dem Wasser gefischt. Im Großen und Ganzen guter Durchschnitt.
„Ach übrigens …“ Schnell schluckt Rory sein Essen hinab. „Ash hatte mich angerufen, aber ich konnte nicht rangehen. Hat sie sich bei dir gemeldet?“
„Jup. Wir haben schon ein paar Sachen in Planung. Auf jeden Fall eine Raftingtour den Fluss hinunter und einen Bungeesprung.“ Ich gehe in die Küche und wärme die Nudeln mit Käsesoße in der Mikrowelle auf, die von gestern Abend übrig sind.
Rory lehnt sich mit zufriedenem Gesicht an den Türrahmen. „Mann! Das wird klasse!“
Über seinen Enthusiasmus freue ich mich mehr als sonst. Früher war er Feuer und Flamme für unseren Kanal und genauso daran interessiert wie ich, ihn voranzutreiben. Heute steht immer sein herannahendes Studium im Vordergrund.
„In den nächsten Tagen telefonieren wir noch mal.“
„Ich habe übrigens ein WG-Zimmer in Christchurch gefunden.“
„Hm“, murmle ich und hole die Pasta aus der piependen Mikrowelle.
„Drei Leute wohnen da. Die scheinen echt in Ordnung zu sein.“
„Hm.“
„Und die Wohnung ist nicht weit von der Uni entfernt. In etwa einer Woche muss ich noch mal hin, um ein paar Formalitäten zu erledigen.“ Er reibt sich die Hände.
„Hm“, mache ich ein weiteres Mal und gehe mit meinem Essen ins Wohnzimmer. Wahrscheinlich sollte ich ihm mehr Interesse entgegenbringen. Sein bevorstehender Umzug, die Uni, überhaupt der Entschluss, erneut ein Studium zu beginnen. Das alles ist groß für ihn. Aber mir will seine Entscheidung einfach nicht in den Kopf. Ich fühle mich in Queenstown, dieser herrlich verrückten Stadt, pudelwohl. Von mir aus hätte unser Leben immer so weitergehen können.
Ich setze mich mit meinem Teller aufs Sofa und stopfe den Mund mit Pasta voll. „Wie war es zu Hause?“, frage ich, anstatt auf seine Neuigkeiten aus Christchurch einzugehen.
„Auf der Plantage ist alles wie immer. Owen hat es gut im Griff.“ Er hockt sich neben mich und scheint zu überlegen, was er sonst noch erzählen könnte. „Dad freut sich schon auf die neue Rugbysaison.“
Wie für die meisten Neuseeländer ist Rugby Dads Heiligtum. Über den Sport kann er jubeln oder sich aufregen. Und da er uns das Interesse daran anerzogen hat, sind auch Rory und ich voller Vorfreude. Bald geht es los.
„Und Mum hat gefragt, wann du mal wieder vorbeikommst.“
Ich brumme und schiebe mir das letzte bisschen Pasta in den Mund. Zu Hause habe ich mich wirklich schon lange nicht mehr blicken lassen.
„Ach, und sie hat irgendetwas von Besuch erzählt.“
„Besuch? Welcher?“
„Hm. Die Tochter von …“ Er überlegt angestrengt. „Ich weiß nicht mehr. Dad und Owen haben dazwischen geplappert. Weißt ja, wie das ist. Alle reden durcheinander. Mum wird sich deswegen bestimmt noch mal melden.“
Ich stehe auf, um meine leere Schüssel in die Küche zu bringen. Mein Blick fällt auf die Uhr. „Boah, schon so spät. Ich geh mal unter die Dusche. Nachher treffe ich mich noch mit den üblichen Verdächtigen zum Billardspielen.“
„Matt und Phil“, schlussfolgert er.
„Jup. Kommst du mit?“
„Logo.“
***
Später am Abend betreten wir die kleine Hütte, in der fast jeder Tisch besetzt ist. Wir grüßen ein paar bekannte Gesichter an der rustikalen Bar, hinter der ein Bier nach dem anderen gezapft wird. Ein Monitor an der Wand zeigt lautlos ein Rugbyspiel der vorletzten Saison, und der herrliche Geruch nach Burgern macht mich erneut hungrig. Wir gehen zum hinteren Teil der Räumlichkeiten, wo der Billardtisch steht. Matt und Phil sind bereits mitten in einem Spiel.
„Da seid ihr ja“, begrüßen sie uns. „Wir haben schon zwei Runden hinter uns. Die Mädels sind gerade draußen beim Rauchen.“
„Oha, welche Mädels?“, will Rory wissen.
Ich zucke mit den Schultern.
„Na, die zwei hübschen Schweizerinnen“, erklärt Matt und setzt ein fettes Grinsen auf. „Und deine Engländerin“, wendet er sich an mich.
Ach, natürlich. Amy.
„Mädels vom heutigen Raftingtrip“, stelle ich klar.
Rory lacht. „Also alles wie immer. Ihr habt nichts anbrennen lassen.“
„Wir? Niemals.“ Matts Grinsen wird obszön. „Und jetzt erzähl mal.“ Er klopft Rory auf die Schulter. „Wie war es in Christchurch? Bist du schon ein wenig gebildeter?“
„Gebildeter als du allemal.“ Feixend nimmt Rory ihm den Billardqueue aus der Hand und greift in das Spiel ein.
„Ich hole uns mal ein Bier“, lasse ich die Gruppe wissen und mache mich auf den Weg zum Tresen. Dort bestelle ich und warte auf die Getränke.
Amy und zwei weitere Mädchen, die vermutlich die Schweizerinnen sind, kommen durch den Seiteneingang der Terrasse ins Innere des Pubs. Sie sehen mich nicht und nehmen direkt Kurs auf den Billardtisch. Ich trete einen Schritt zur Seite, um still und unbemerkt zu beobachten, wie Amy meinem Bruder um den Hals fällt und ihm einen riesigen Schmatzer aufdrückt. Sie hält ihn für mich. Interessant, wie sie rangeht. Immerhin kennen wir uns erst seit der Raftingtour.
Rory wirkt nicht allzu überrascht, denn wir werden ständig miteinander verwechselt. Die Jungs grinsen verschmitzt, während Rory und Amy ein paar Worte wechseln. Ich bezahle für das Bier, und als ich zu ihnen trete, kann ich Amy bereits protestieren hören.
„Was soll das heißen? Willst du mich für dumm verkaufen? Natürlich kennen wir uns.“
Jetzt muss ich schnell einschreiten, denn sie wirkt ziemlich verärgert. „Hi, Amy“, begrüße ich sie.
„Huch.“ Sie legt die Hand vor ihren Mund. „Dich gibt es zweimal?“
Der Spruch ist steinalt.
„Freaky, nicht wahr?“, witzelt Matt. „Ich brauchte Wochen, um Rory und Finn endlich unterscheiden zu können.“
„Ach was. Du trinkst zu viel Bier“, scherze ich.
„Im Winter trägt Finn oft Vollbart“, erklärt er weiter.
„Hält mich warm.“
„Letzten Sommer hatte Rory doch die Haare so lang, dass er sie ständig zusammengebunden hat“, steuert Phil bei.
„Ach ja. Sein schicker Man-Bun“, zieht ihn Matt mit schrecklich hoher Stimme auf.
Rory lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Wer kann, der kann“, sagt er und grinst spitzbübisch in Richtung der zwei Schweizerinnen. „Und wen haben wir hier?“
Wir stellen uns gegenseitig vor, und schon bald wird klar, dass mein Bruder heute Abend nicht allein nach Hause gehen wird. Er spielt mit einem der Schweizer Mädels eine Runde Billard, und die Körpersprache der beiden sagt alles.
Amy hängt nicht hinterher. Während der nächsten zwei Stunden weicht sie mir nicht von der Seite und findet auf jeden meiner Scherze eine schlüpfrige Antwort. Als sie später von einer weiteren Zigarettenpause an unseren Tisch zurückkehrt, setzt sie sich nicht auf ihren Stuhl, sondern direkt auf meinen Schoß. Mit hochgezogenen Augenbrauen grinse ich sie an. Bei ihr muss ich mir heute keine Mühe geben.
„Bin ich dir zu schwer?“ Sie schenkt mir einen unschuldigen Blick aus ihren blaugrauen Augen.
Ich lache. Unschuldig kann sie nicht besonders gut.
„Du bist so klein und dürr, dass vermutlich selbst meine jüngste Nichte mehr Gewicht auf die Waage bringt. Die ist noch keine zwei.“
Sie antwortet nicht, sondern legt ihre Lippen auf meine. Schon gleich schmecke ich den süßlichen Rest des Alcopops, den sie eben getrunken hat, gemischt mit rauem Zigarettenaroma. Nicht mein Favorit, aber was soll’s. Ich erwidere ihren Kuss, und als ich ihre Hände unter meinem Shirt spüre, weiß ich, dass auch ich diesen Pub heute nicht allein verlassen werde.