1 – Lilly: Flughafen Frankfurt
Anfang März
Emsig laufen die Menschen hin und her. Dazwischen Lautsprecherdurchsagen, Geschäftsleute, gestresste Eltern, übermüdete Kinder. Jasmin und ich wirken wie zwei Fremdkörper inmitten des nachmittäglichen Gewusels am Frankfurter Flughafen. Meine Augenlider sind schwer. Zwischen den Grübeleien konnte ich nur wenig Schlaf finden. Jasmin sieht nicht besser aus. Irgendwann auf der langen Reise hat sie zwar aufgehört zu weinen, aber die Traurigkeit ist ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ich vermisse ihn schon jetzt so sehr.“ Sie starrt auf ihre Tasche, die auf dem Laufband langsam in unsere Richtung fährt. „Das ist doch verrückt, oder?“
Ich nehme sie in den Arm, streichle ihr über den Rücken. „Ihr werdet einen Weg finden.“
Ihr Handy piept. Jasmin und Rory haben sich seit unserer Landung schon mehrere Male geschrieben. Wer hätte gedacht, dass dieser Urlaub ihr Leben verändern würde? Eigentlich unser beider Leben. Meine Freundin hat die große Liebe gefunden und will sich der Herausforderung einer Fernbeziehung stellen. Und ich? Meine einstige große Liebe Raphael war verloren, möchte nun zu mir zurückkommen, und ich muss mir eingestehen, dass ich nicht mehr dieselbe bin wie vorher. Wegen eines Mannes, der mich völlig überrumpelt hat. Nicht nur, weil ich mich in ihn verliebt habe, sondern auch, weil er in mir etwas bewegt hat.
Wir schnappen uns das Gepäck, laufen zusammen mit vielen anderen Reisenden durch einen Gang und erreichen schließlich den Ankunftsbereich, in dem zahlreiche Leute warten. Viele fallen sich in die Arme oder werden von Schildchenträgern empfangen. Das weckt Erinnerungen. Vier Wochen ist es her, dass Rory uns in Christchurch abgeholt hat.
Es dauert nicht lange, bis ich Raphael in der Menge erkennen kann. Mit einem Blumenstrauß in der Hand kommt er auf mich zu. Rote Rosen. Ich stocke in meiner Bewegung. Mit ein paar Schritten ist er bei mir. Kurz zögert er, aber nimmt mich dann in den Arm.
„Schön, dass du wieder da bist“, flüstert er mir ins Ohr, während das Transparentpapier, in dem die Blumen eingewickelt sind, raschelt.
„Hallo, Raphael“, begrüße ich ihn und löse mich aus der Umarmung.
„Für dich.“ Er hält mir den Strauß hin und nimmt mir dafür meinen Koffer ab.
„Äh … Danke schön. Das war wirklich nicht nötig.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Doch, natürlich war es das.“ Er schenkt mir ein sanftes Lächeln, dann gleitet sein Blick zu Jasmin, die in zwei Metern Entfernung damit beschäftigt ist, eine Nachricht in ihr Handy zu tippen. „Hi, Jasmin.“
Die beiden drücken sich kurz, und er nimmt ihren Koffer ebenfalls an sich.
Mit skeptischem Gesichtsausdruck mustert er uns. Wir sehen nicht gerade aus, wie zwei erholte Urlauberinnen. „Ihr seid sicherlich sehr müde.“
„Es war eine lange Reise.“
Wir marschieren einige Gänge entlang, bis wir zum Parkhaus gelangen. Schon bald ziehe ich mir meine Jacke über. Der März scheint zwar mit seinen sieben Grad ganz normal für die europäische Jahreszeit, doch nach all den neuseeländischen Sommerwochen empfinde ich ihn als ziemlich kühl.
Raphael hört nicht auf, zu fragen, was wir alles erlebt haben. Sein aufrichtiges Interesse bezweifle ich nicht, aber sicherlich will er auch die Stimmung lockern. Jasmin und ich sind wahrlich Trauerweiden.
Auf der zweistündigen Heimfahrt erzähle ich ein bisschen von der unglaublichen Natur und den Bergen und Tälern, die wir gesehen haben. Vieles weiß er ohnehin von unseren Telefonaten. Langsam lasse ich einfließen, dass Jasmin ihr Herz in Neuseeland gelassen hat. Dass mein eigenes irgendwo zwischen hier und dort im Strudel aus Raphael, Finn und der Frage, was ich eigentlich will, verloren gegangen ist, erwähne ich nicht. Noch nicht. Das Gespräch muss unter vier Augen stattfinden.
Raphael hört ungläubig zu, linst immer wieder in den Rückspiegel zu Jasmin, die sich nur spärlich an der Unterhaltung beteiligt. Sein perplexes Gesicht ist lustig. Auch er kennt sie schon sehr lange und hat sie noch nie so gesehen.
Als er den Wagen vor ihrer Wohnung anhält, steige ich mit ihr aus und verabschiede mich mit einer festen Umarmung.
„Danke“, flüstert sie.
Ich sehe sich überrascht an. „Aber wofür denn?“
„Ohne dich hätte ich Rory nie kennengelernt.“
„Jetzt wirst du albern.“
Endlich ein kleines Lächeln. „Trotzdem. Diese Reise war eine Fügung des Schicksals, und du hast sie gebucht.“
Ich muss auflachen. Meine Freundin ist definitiv nicht mehr dieselbe. Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie jemals ernsthaft von Schicksal oder Fügung gesprochen hat. Das war immer ich.
„Na ja. Über siebzig Ecken war ich dafür verantwortlich. Den Rest habt ihr selbst hinbekommen.“ Nun werde ich wieder ernster. „Kommst du klar?“
Sie nickt. „Ja. Rory und ich wollen nachher gleich telefonieren.“
„Das klingt gut.“
„Und du?“, fragt sie und nickt in Raphaels Richtung, der geduldig im Wagen wartet. „War sehr lieb von ihm, uns abzuholen. Und die Rosen erst. Ich bin froh, dass ihr wieder zusammen seid. Ihr bekommt das sicher hin.“
Ich erstarre. Mein Kopf ist leer. Was sage ich darauf?
Aber meine Freundin erlässt mir eine Antwort, indem sie mich noch mal an sich drückt und dann ihren Koffer in Richtung des Hauseingangs zieht. „Wir telefonieren später, ja? Ich ruf jetzt erst mal Rory an und leg mich dann aufs Ohr.“
Ich nicke. „Bis später.“
Langsam trotte ich zurück zum Wagen und steige ein. Wir winken, bis Jasmin hinter der Tür verschwunden ist.
Raphael seufzt und stützt seine Hände am Lenkrad ab. „Und nun zu deiner Mutter?“
„Äh …“ Ich überlege. Natürlich bin ich auch hundemüde, und Mama erwartet mich. Aber ein Gespräch mit Raphael ist wichtiger. „Ich würde lieber erst mal mit dir reden.“
Er wendet sich mir zu und lächelt mich liebevoll an. „Ich bin doch hier.“
„Ja. Aber ich möchte nicht im Auto auf der Straße sprechen.“
„Sollen wir zu uns …“ Er stockt und räuspert sich. „… zu mir fahren?“
Seine Wohnung war bis vor vier Monaten unsere gemeinsame.
Ich nicke, und er fährt los.
„Jasmin ist wirklich ein verrücktes Huhn und immer wieder für eine Überraschung gut. Diesmal also eine Fernbeziehung zu einem Neuseeländer.“ Raphael schüttelt den Kopf mit einem Grinsen.
Ich kann verstehen, dass er die Neuigkeiten über Jasmin ein wenig belächelt. Um meine Freundin drehen sich zu viele Männergeschichten. Allerdings hat er sie in den letzten vier Wochen nicht gesehen.
„Ich glaube, diesmal ist es richtig ernst.“
Raphael gibt einen zweifelnden Laut von sich. „Na ja. Das hast du dir schon so oft für sie gewünscht. Wie lange ist es her, als sie mit dem Yogalehrer zusammen war? Nach ein paar Wochen hat sie ihn für diesen verheirateten Unternehmensberater abserviert.“
„Sie denkt ernsthaft darüber nach, dorthin zu ziehen“, rutscht es mir mehr heraus, als dass ich es wirklich sagen wollte. Der Gedanke macht mir schreckliche Angst.
„Jetzt warte mal ab. In zwei Wochen sieht das bestimmt anders aus, und sie hat genug vom Kiwi-Mann.“ Bei einer roten Ampel hält er. „Apropos, hast du denn einen echten Kiwi sehen können?“
„Nein, leider ni-“ Mir fällt etwas ein. „Verdammt.“
„Was?“
„Kiwinski.“ An den hatte ich nicht mehr gedacht.
„Wie bitte?“
„Kiwinski. Mein Kuschelkiwi. Ich hatte ihn als Talisman dabei und …“ Ich kann mich nicht erinnern, ihn gepackt zu haben. Zumindest nicht bewusst. Wann habe ich ihn zum letzten Mal gesehen?
„Er muss noch in Dorothy liegen.“
„Dorothy?“ Raphael guckt mich amüsiert an.
„Die Thompsons nennen ihren Campervan so.“
Ich hätte noch mal gründlich nachsehen sollen, ob auch wirklich nichts zurückgeblieben ist.
„Kannst du nicht anrufen und fragen, ob die mal nachgucken können?“
„Ja. Vielleicht schreibe ich Anna gleich.“ Schnell tippe ich eine Nachricht ins Handy und sende sie ab.
Ich seufze. Kiwinski zu verlieren, ist das passende Ende zum Urlaub.
Die Ampel schaltet auf Grün, und Raphael fährt weiter. Er lenkt den Wagen durch die altbekannten Straßen direkt vor das Haus, in dem seine Wohnung liegt. Dort parkt er. Wir laufen zum Eingang und steigen die Treppen zum zweiten Stockwerk hoch. Wie immer muss er die Tür etwas heranziehen, damit sie sich öffnen lässt. Eine von vielen kleinen Routinen, die sich so vertraut anfühlen und doch so anders.
Wir treten ein, und auch hier überkommt mich ein eigenartiges Gefühl. Seit meinem Auszug kurz nach unserer Trennung war ich nicht mehr hier. Einige Dinge sind genauso wie ich sie in Erinnerung habe. Andere sind verändert. Am allermeisten wohl ich.
„Möchtest du was trinken? Oder hast du Hunger? Soll ich uns etwas bestellen?“, fragt Raphael, während er die Rosen auf die Kommode im Flur legt und seine Jacke abstreift.
„Nein, danke.“
Er nimmt mir auch meine Jacke ab und bedeutet mir, ins Wohnzimmer zu treten.
Da stehe ich nun unschlüssig und weiß nicht, wie ich anfangen soll.
„Ist sicher komisch für dich, hier zu sein, oder? Vor allem nach solch einer langen Reise.“ Nachdem er meine Jacke aufgehängt hat, kommt er dazu.
„Ja. Irgendwie schon.“ Unsicher verlagere ich das Gewicht von einem Bein aufs andere.
„Willst du dich nicht setzen?“
Ich schüttle den Kopf.
„Also …“ Er stellt sich vor mich. „Wir wollten über uns sprechen, wenn du wieder da bist. Und ich freu mich, dass du direkt vom Flughafen hierher mitgekommen bist.“
„Raphael …“ Wie fange ich bloß an? „In Neuseeland, da …“ Ich stocke. „Nicht nur Jasmin hat dort jemanden kennengelernt.“
Er sinkt auf das Sofa und sieht mich mit großen Augen an.
Ich hingegen schaffe es nicht, mich zu setzen. Stattdessen findet mein Finger einen Faden, der von meinem Shirt absteht und wickelt ihn immer wieder herum, bis das Stück Garn länger wird. „Ich habe dort einen Mann kennengelernt und …“ Noch einmal tief Luft holen. „… und mich in ihn verliebt.“
Er schluckt, öffnet den Mund, schließt ihn wieder. „Hast du mit ihm geschlafen?“, will er flüsternd wissen.
Ich sehe ihn einen Moment lang an und lasse diese Frage auf mich wirken. Obwohl miteinander schlafen eine große Sache ist, würde mich das Wort verliebt viel besorgter machen.
„Ja. Ich habe mit ihm geschlafen.“
Er schüttelt leicht den Kopf und scheint mein Geständnis einzuordnen. „Ich verstehe nicht. Wir haben doch oft gesprochen. Du warst mit jemanden zusammen, während wir telefoniert haben?“
„Nein. Nicht so.“ Diesen Vorwurf weise ich direkt von mir. „Ich kannte ihn zu der Zeit, als wir miteinander telefoniert haben. Es hat sich irgendwie immer weiter aufgebaut. Aber mehr ist erst …“
„Weißt du was? Eigentlich will ich das alles gar nicht so genau wissen.“ Er hebt die Hände hoch, als wolle er meine Worte abwehren.
„Raphael … Es tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, dich zu belügen. Aber mit achtzehntausend Kilometern zwischen uns wollte ich unsere … unsere Situation nicht klären. Dennoch war es mir wichtig, bei der ersten Gelegenheit ehrlich zu sein. Darum bin ich hier.“
Er weicht meinem Blick aus. Mehrere Momente herrscht Stille. Der Faden um meinen Finger ist inzwischen sehr lang. Den Saum um mein Shirt werde ich wohl nachher ansehen müssen.
„Und was ist jetzt mit ihm und dir?“ Seine Stimme klingt leise und deprimiert.
Meine auch, als ich antworte: „Nichts. Es ist vorbei.“ Hinter meinen Rippen zieht sich mein Herz in einem fiesen Schmerz zusammen. Wegen meiner Worte und auch wegen Raphaels Traurigkeit. „Es tut mir wirklich leid“, beteure ich noch mal. „Ich wollte dir nicht wehtun. Ich … ich denke, es ist besser, wenn ich gehe.“
Am liebsten würde ich mich sofort umdrehen und die Wohnung verlassen. Leider liegt mein Gepäck immer noch im Kofferraum seines Autos.
„Warte.“ Raphael steht auf. „Lilly, bitte geh nicht.“ Er kommt zu mir herüber. „Ich wusste im ersten Moment nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ich meine … damit habe ich nicht gerechnet.“ Mit einem Seufzen streicht er sich mit der Hand über den Hinterkopf. „Aber die Wahrheit ist … ich muss dir auch etwas gestehen.“
Ich blicke zu ihm auf und treffe auf ein schuldbewusstes Gesicht.
„In der Zeit, in der wir nicht zusammen waren … da hatte ich auch …“ Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen, obwohl ich mir schon denken kann, wo diese Unterhaltung hinführen wird. „Ich habe mit einer anderen Frau geschlafen.“
Ich atme aus, wusste gar nicht, dass ich die Luft angehalten hatte. Kaum merklich nicke ich.
„Sie … sie ist eine Kollegin aus dem US-Büro. Sie war nur für ein paar Wochen in Deutschland.“
„Okay“, sage ich leise. Seine Enthüllung kommt für mich nicht ganz so überraschend wie meine für ihn. Immerhin hatte er unsere Beziehung damals beendet, um mehr Freiheit zu haben. Dennoch weiß ich nicht, was ich nun erwidern soll. „Dann wissen wir nun wohl alles.“
„Das war im Dezember und ist auf der Weihnachtsfeier der Firma passiert“, fährt er fort.
Nun ist es an mir, die Hände anzuheben. „Raphael, das möchte ich lieber nicht erfahren.“
„Lilly, was ich sagen will, ist …“ Er reibt sich über sein Gesicht. „Das klingt jetzt bestimmt blöd. Aber als ich mit ihr zusammen war, hat mir das nur gezeigt, wie sehr ich dich vermisse.“
Perplex gucke ich auf. Wie bitte?
„Weißt du … vielleicht …“ Er stockt und fährt sich wiederholt mit der Hand durch die Haare. „Also eigentlich … Wir könnten es doch als Chance sehen.“
„Als Chance“, wiederhole ich trocken. Was?
„Ich meine … wir waren ein paar Monate getrennt, haben Leute kennengelernt und Erfahrungen außerhalb unserer Beziehung gesammelt. Und nun haben wir die Chance, wieder zusammenzukommen. Auf Augenhöhe.“
Ich brauche einige Momente, um zu verstehen, welchen Sinn seine Aussage ergibt. Speziell das Wort Augenhöhe geistert wirr durch meinen Kopf. Wenn ich ihm nicht offenbart hätte, dass ich in Neuseeland mit einem Mann zusammen war, wäre die andere Frau überhaupt zur Sprache gekommen?
„Samantha ist zurück in Washington. Weit, weit weg. Da musst du dir keine Sorgen machen.“
Samantha heißt sie also.
„Und der Mann ist in Neuseeland. Weit, weit weg.“
Sein Name ist Finn, aber das ist egal.
„Du warst eben im Urlaub, und wir waren ja auch getrennt.“ Er nennt all die Argumente, die ich ihm aufzählen könnte, wenn ich um unsere Beziehung kämpfen würde. Stattdessen tut er es.
„Du willst sagen, wir sind quitt“, kommt es mir spröde über die Lippen.
Raphael erkennt an meinem Ton, dass die Sache für mich damit nicht erledigt ist. „Ich will sagen, dass wir ein tolles Paar sind und aus dieser Krise stärker herausgehen könnten, wenn wir uns die Chance geben.“ Er nimmt meine Hand und küsst sie. „Lass es uns wenigstens versuchen. Wirf uns nicht weg.“
Einige Augenblicke ist es still. Dumpf höre ich draußen ein Auto vorbeifahren und das Summen des Kühlschranks. Die üblichen Geräusche dieser Wohnung, die mir noch immer so vertraut sind.
Raphaels Griff um meine Hand wird fester. Sein Blick ist eindringlich, fast flehend.
Ich nehme mir einen Moment, um unsere Beziehung Revue passieren zu lassen. Nicht trauernd wie in den Monaten direkt nach der Trennung. Sondern objektiv. Ich denke an einige schlechte Zeiten, die wiederum durch so viele gute Zeiten aufgewogen werden können. Schließlich nicke ich. Er hat recht. Er möchte uns nicht wegwerfen. Er will für uns kämpfen. Und ich sollte das auch tun. Zögerlich küssen wir uns und wagen den ersten Versuch, zu uns zurückzufinden. Es wird klappen. Bestimmt.
***
Gegen Abend setzt Raphael mich bei Mama ab. In den nächsten Tagen wollen wir meine Sachen wieder in unsere gemeinsame Wohnung schaffen.
Obwohl mein Körper mir seine Müdigkeit mit Rücken- und Gliederschmerzen signalisiert, bin ich aufgekratzt. Der lange Flug, Jasmins Drama, Raphaels Enthüllungen, unsere Entscheidung, es noch mal miteinander zu versuchen. Alles geistert in einem großen Durcheinander in meinem Kopf herum. Und irgendwo zwischendrin ist immer wieder Finn. Sicher wird sich das in den nächsten Tagen beruhigen.
„Lilly!“ Mama reißt die Tür auf und zieht mich in eine herzliche Umarmung. „Hach, ich habe dich vermisst.“
Bei einer Tasse Tee erzähle ich ihr von der Reise und zeige ihr die passenden Fotos.
„Oh, wow. Kein Wunder, dass Owen die Aufnahmen für die Thompson-Fruit-Website haben möchte. Sie sind toll.“
Ich lache auf. Alles, was in Neuseeland gesprochen wurde, weiß sie natürlich schon von Anna.
„Um die Website kümmere ich mich in ein paar Tagen, wenn ich die besten Fotos herausgesucht habe.“
Sie klickt sich weiter durch die Bilder und ruft „Oh“ und „Wow“ im Sekundentakt. Besonders die Aufnahmen der Wale und Delphine aus Kaikôura und die Robben aus Ohau kommentiert sie begeistert. „Wie schön. Ich bin richtig neidisch. Hast du mit Finn eine gute Zeit verbringen können?“
Ich blicke auf. „Wie bitte?“
„Auf dem Weg zum Whalewatching warst du nicht sehr glücklich über seine Begleitung. Zumindest hatte ich das Gefühl, als wir telefoniert haben. Aber dann habt ihr ja ein paar Tage im Abel Tasman Park verbracht.“ Sie dreht die Kamera, die inzwischen ein Foto aus dem Park zeigt. Finn, der im Sand tollt.
„Äh … Ja. Hat sich so ergeben. Wir haben uns am Ende ganz gut verstanden.“
In Eile überlege ich, ob irgendwelche Aufnahmen verraten könnten, was noch zwischen uns passiert ist. Aber es war ja sonst niemand dabei, der uns fotografieren hätte können.
Nachdem Mama die restlichen Bilder durchgesehen hat, legt sie die Kamera weg und nippt an ihrem Tee. „Was für ein wunderschönes Abenteuer du gehabt hast. Ich freu mich für dich.“
Gedankenverloren zupfe ich an meinem Zopf. Es war ein wunderschönes Abenteuer. Doch ist die Geschichte nur halb erzählt, wenn ich Finn weglasse. Ich würde so gerne mit jemanden über ihn sprechen. Über den Effekt, den er von Anfang an auf mich hatte. Über meine Gefühle, die sich ganz langsam stärker für ihn entwickelten. Über die große Enttäuschung, die am Ende übrigblieb.
Aber Mama möchte ich damit nicht belasten. Sie würde sich Sorgen machen und früher oder später Anna davon erzählen.
Mein Handy klingelt.
„Jasmin“, lese ich ab. „Ich geh mal ran, um zu sehen, wie es ihr geht.“
Mama nickt und räumt das Teegeschirr in die Küche.
Ich nehme das Gespräch an. Es dauert keine Minute, bis sich das Thema vom Hallo zu Rory wendet.
„Er hat heute einen anstrengenden Tag vor sich. Der Umzug nach Christchurch“, erzählt Jasmin. „Schon komisch, oder? Bei ihm beginnt gerade ein neuer Tag, während unserer zu Ende geht.“
Ich kann nicht richtig auf ihre Überlegungen eingehen, denn ich hänge noch bei Rorys Umzug nach Christchurch. Unfreiwillig muss ich an Finn denken, und wie er sich wohl in diesem Moment fühlt. Meinen Gedanken folgt ein Stich ins Herz, weil sich die Erinnerung an sein grußloses Verschwinden in mein Gedächtnis schiebt.
„Bist du noch dran?“, höre ich Jasmin plötzlich fragen.
„Ja. Sorry. Was hast du gesagt?“
„Wie du dich fühlst, jetzt, da wir zurück sind?“
Ich schlucke. Wie fühle ich mich? „Komisch, um ehrlich zu sein.“
„Warum?“
Ich zupfe an meinem Zopf herum und überlege. „Raphael und ich hatten ein langes Gespräch und wollen es noch mal miteinander versuchen.“
„Hach, ich freu mich so für dich“, kommt es vom anderen Ende der Leitung. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Jasmin skeptischer wäre. Sie ist diejenige, die immer wieder sagte, dass ich Raphael nicht brauche, um glücklich zu sein. Überhaupt war sie bis vor vier Wochen eher feministisch eingestellt. Ist das alles Rorys Effekt?
„Du denkst also nicht, dass wir es überstürzen?“
„Warum? Er hat einen Fehler gemacht und gerade noch die Kurve gekriegt.“
Ich seufze und ringe mit mir. Sollte ich ihr doch erzählen, was mit Finn passiert ist? Oder dass auch Raphael Spaß mit einer gewissen Samantha hatte? Oder zählt das alles nicht, weil diese Leute ja weit, weit weg wohnen, so wie Raphael es betont hat?
Nein, irgendwie kann ich darüber noch nicht sprechen. Noch nicht gleich.
„Ich meine nur, dass in den vier Monaten unserer Trennung viel geschehen ist. Vielleicht sind wir gar nicht mehr dieselben Menschen“, halte ich das Thema vage.
„Das könnt ihr doch herausfinden, indem ihr euch noch mal eine Chance gebt. Sonst werdet ihr niemals wissen, was hätte sein können.“
Verblüfft höre ich zu, wie sie Geschichten aus Raphaels und meiner Vergangenheit erzählt. Davon gibt es natürlich viele. Einige sind wirklich süß.
Sie hat recht. Wir sind ein tolles Paar. Wenn ich erst mal richtig angekommen bin, den Jetlag abgeschüttelt habe und klar denken kann, wird sich der Aufruhr legen und alles wieder normal werden.
2 – Finn: Queenstown
Vier Wochen später im April
„O Shit, ich muss los“, höre ich eine Stimme neben mir.
Völlig verschlafen und orientierungslos schrecke ich hoch und brauche einen Augenblick, um all die Erinnerungsfetzen an gestern Nacht zusammenzusammeln. Meine Augenlider sind schwer und mein Kopf brummt höllisch. Wenn ich aussehe, wie ich mich fühle, dann dürfte es leicht werden, einem Zombie Konkurrenz zu machen.
Die Blondine, die gerade ihre Klamotten zusammensucht, scheint etwas munterer zu sein als ich. Ob ich ihr sagen sollte, dass ihr Make-Up überall hängt, nur nicht dort, wo es gestern Abend war? Wie heißt die denn noch mal?
„Verdammt, ich bin so spät dran“, murmelt sie, während sie ihr Top überzieht. „Der Bus fährt in fünfzehn Minuten. Wenn ich den verpasse, bekomme ich das Ticket nicht ersetzt.“ Keine Ahnung, ob sie mit sich selbst redet oder all das mir erzählt. Als sie fertig angezogen ist, kommt sie zu mir ans Bett. „War ein toller Abend. Ich wünschte, wir hätten noch mehr Zeit.“
Ich nicht.
„Auf Insta habe ich dich abonniert, und meine Handynummer hast du auch. Vielleicht sehen wir uns ja wieder.“
Glaub ich nicht.
„Okay. Mach’s gut und schöne Reise“, verabschiede ich mich.
Sie hatte mir gestern erzählt, dass sie heute weiter in den Süden fährt. Lustig, dass ich mich daran erinnere, aber nicht an ihren Namen.
Sie drückt mir einen Kuss auf und verlässt mein Zimmer. Zwei Sekunden später höre ich die Wohnungstür zuknallen. Weg ist sie.
Erleichtert sinke ich zurück ins Bett. Mein Kopf tut weh, und die Luft ist stickig. Zerknautscht schlurfe ich ein paar Minuten später erst ans Fenster, um die Herbstluft hereinzulassen, und danach aus meinem Zimmer, um mir einen Kaffee zu holen. Auf dem Weg in die Küche entdecke ich Jason, meinen neuen Mitbewohner, auf dem Sofa.
„Guten Morgen.“ Er sieht etwas frischer aus als ich und grinst mich schief an. „Anstrengende Nacht gehabt?“ Vermutlich ist ihm die Frau, die eben hinausgeeilt ist, nicht entgangen.
„War nett.“ Meine Stimme kratzt.
Er hat meinen Laptop auf dem Schoß und tippt darauf herum. Das nervt mich. Ständig leiht er sich irgendwelche Dinge ungefragt von mir aus.
„Ist das schon wieder mein Computer?“
„Ja, sorry. Ich mach nur schnell was fertig, okay?“
Seufzend gehe ich in die Küche. Jason ist wirklich kein übler Mitbewohner, aber bei manchen Sachen wäre es mir lieber, wenn er mich vorher fragt. Wie zum Beispiel, ob er meinen Laptop benutzen kann. Oder neulich, als er sich einfach eine der Kameras schnappte. Das WG-Verhältnis ist eben anders als mit Rory.
Endlich ist der Kaffee durchgelaufen, und ich will ihn gerade trinken, als ich eine Stimme höre.
„Was in aller Welt haben die in diesen See gekippt?“
Sofort erkenne ich sie. Lilly.
Dann höre ich mich selbst sagen: „In den See gekippt?“
Lilly ruft: „Sieh dir das doch mal an. So ein irres Hellblau. Als wenn man Tonnen von Waschpulver hineingeschüttet hätte.“
Die Stimmen kommen aus dem Wohnzimmer. Zügig marschiere ich hinüber und finde Jason, der sich auf meinem Computer eines der Videos ansieht, die dort gespeichert sind. Ausgerechnet das Video. Der Ausflug mit dem Paragleiter. Ich habe es mir nie angeschaut, sondern einfach nur auf den Laptop gezogen.
Lilly kichert, und ich fange an, ihr die Māori-Geschichte zu Mount Cook zu erzählen. Noch immer kann ich es nicht fassen, dass mich diese Frau so kalt erwischen konnte. Keine Ahnung, was sie mit mir im Abel Tasman Park gemacht hat, aber ich war drauf und dran meine Prinzipien für sie über Bord zu schmeißen. Ich wollte sie tatsächlich fragen, ob sie zu mir ziehen möchte. Bei so viel Dummheit schüttelt sich mein Kopf von allein und erinnert mich wieder daran, dass er eigentlich wehtut.
„Bist du jetzt fertig?“, schneidet meine Stimme durch das fröhliche Geplapper auf dem Monitor. „Das ist privat.“
Jason guckt schuldbewusst auf und schließt das Programm. „Sorry. Ich hab versehentlich draufgeklickt. Ist ein cooles Video.“
„Da sind tausend coole Videos drauf. Deswegen will ich nicht, dass jemand außer mir seine Finger daran hat.“ Ich nehme das Gerät und klappe es zu. Mit einem Grummeln trage ich es in mein Zimmer und schließe die Tür.
Mein Telefon klingelt. O Mann. Ich möchte einfach nur wieder ins Bett gehen. Gereizt sehe ich nach, wer der Anrufer ist. Mum. Die ruft in letzter Zeit auffällig oft an. Sie macht sich Sorgen. Einerseits süß. Andererseits nervig. Ja, ich finde es nicht toll, dass Rory weg ist, aber ich werde es überleben.
„Hi, Mum.“
„Finn, wie geht es dir?“ Ihre Stimme klingt frisch und sonnig. Wie fast immer.
„Genauso, wie vor zwei Tagen bei deinem letzten Anruf.“
„Och, nun sei nicht so mufflig. Hast du heute frei?“
„Hoffentlich, sonst sollte ich nicht zuhause sein und mit dir telefonieren.“ Boah, bin ich schlecht drauf.
Sie seufzt, und ich reiße mich zusammen.
„Sorry, Mum. Ich bin heute einfach …“ Total verkatert. „… mit dem falschen Fuß aufgestanden. Wie geht’s euch?“
„Dein Dad scharrt mit den Hufen. Heute Abend spielen die Crusaders.“
Lachend reibe ich mir über die stoppelige Wange. „Das glaube ich dir sofort. Ich werde mir das Spiel im Pub ansehen.“
Rugby! Das einzige Thema, bei dem sich die ganze Familie vereint, auch wenn ich nicht vor Ort bin.
„Rory hat erzählt, dass er es in Christchurch anschaut.“ Sie macht eine kurze Pause. „Was hältst du von seinen Neuigkeiten?“
Keine Ahnung, welche sie meint. Er ist vor drei Wochen ausgezogen und hat begonnen, zu studieren. Seitdem haben wir wenig Kontakt.
„Die da wären?“
„Jasmin will tatsächlich zu ihm ziehen.“
Ach was? Sie ziehen es echt durch?
„Sie ist doch erst seit vier Wochen weg“, sage ich, obwohl Mum das sowieso weiß.
„Rory hat es mir gestern am Telefon gesagt. Aber den Entschluss haben sie wohl schon kurz nach ihrer Abreise gefasst. Mir erzählt ja keiner was.“
Mir doch auch nicht. „Was stört dich daran so? Die zwei sind erwachsen“, hake ich nach, weil Mum sich nicht gerade fröhlich anhört.
„Für mich ist das alles etwas überstürzt.“
„Sagt die Frau, die genau dasselbe gemacht hat.“
„Ja, aber deshalb weiß ich auch, wie schwer auswandern ist. Man lässt Familie und Freunde hinter sich. Ich hoffe, das Mädchen ist sich im Klaren darüber, was sie tut.“
Ich rolle mit den Augen, was sie glücklicherweise nicht sehen kann. „Mum, heute ist das doch kein Hexenwerk mehr. Wenn’s nicht klappt, dann geht sie wieder heim. Ist ja nicht so, als ob man dafür Monate lang auf See unterwegs ist wie vor zweihundert Jahren.“
Sie schnaubt. „Typisch ihr. Gibt es überhaupt etwas, das du und dein Bruder ernst nehmt?“
„Ich denke, Rory und Jasmin kommen bestimmt wunderbar klar. Da würde ich mir eher um Lilly Sorgen machen.“
Halt! Habe ich das gerade laut gesagt?
„Wie meinst du das? Ihr geht es ganz gut. Zumindest erzählt Silke das.“
„Ich meine ja nur.“ Warum musste ich das Thema anschneiden? „Es ist immerhin Lillys beste Freundin, die wegzieht.“
„Ach so. Ja, das stimmt.“ Mum wirkt nachdenklich. „Ich muss sie unbedingt anrufen und ihr sagen, dass ich ihren Kiwinski gefunden habe. Das wird sie bestimmt freuen.“
„Kiwinski?“ Das hässliche Vieh?
„Das ist ihr Kuscheltier in Form eines Kiwis“, erklärt mir Mum, was ich längst weiß. „Sie hatte ihn in Dorothy vergessen. Ich habe ihn unter dem Beifahrersitz hervorgezogen und in eines der alten Kinderzimmer gelegt. Dort ist er erst mal sicher.“
„Dann schick ihr das Ding, damit sie sich daran ausweinen kann, wenn ihre Freundin wegzieht.“
„Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht werden. Sie hat ja ihren Freund. Silke hat mir erzählt, wie zuvorkommend und lieb er zu Lilly ist. Sie hat also jemanden an ihrer Seite.“
Und ich will dieses Gespräch beenden. Meine Kinnlade müsste irgendwo bei meinen Zehen angekommen sein. Wie dreist die Frau ist. Von der Urlaubsaffäre hoppelt sie direkt zurück zum Alltagsfreund. Eigentlich sollte ich ihr applaudieren. Die Rolle des Wolfs im Schafspelz ist ihr auf den Leib geschrieben.
„Na, dann ist ja alles wunderbar. Mum, ich muss jetzt aufhören.“
Nachdem wir uns verabschiedet und aufgelegt haben, lasse ich mich ins Bett fallen. Kein Gedanke mehr an Lilly. Kein. Einziger. Gedanke. Mehr. Basta.
Ich schaffe es tatsächlich, noch ein wenig zu schlafen. Danach wandere ich zum Kühlschrank und stelle frustriert fest, dass der schon wieder leergefressen ist. Jason erachtet es nie für notwendig, einkaufen zu gehen. Wenigstens bleibt mir nicht viel Zeit, mich zu ärgern, denn gleich muss ich mich im Pub blicken lassen.
Da heute Abend die Crusaders gegen die Highlander spielen und es sich hierbei um zwei Rugbyteams von der Südinsel Neuseelands handelt, brennt die kleine Hütte schon, als ich sie erreiche. Die Leute drängeln sich um den großen Monitor, auf dem das Match live übertragen wird. Lautes Stimmengewirr und das klirrende Geräusch von Bierflaschen, die aneinanderstoßen, dominieren den Pub. Obendrein feiert Matt seinen Geburtstag.
Er ist bereits ziemlich angeheitert, da ihm unsere Freunde einen Drink nach dem anderen ausgeben. Josh hält irgendeine Touristin im Arm und flirtet emsig. Die Stimmung ist angeheizt. Jeder fiebert dem Spiel entgegen.
Ich hole mir ein Bier an der Bar. Den Tumult kann ich gut gebrauchen. Irgendwie erheitert mich nämlich in letzter Zeit nichts mehr. Zu oft denke ich an meine eigenen Worte, die Lilly so imponiert haben. Ich möchte mich nicht schon am Montag auf den Freitag freuen müssen. Spaß an dem, was man tut, ist der Schlüssel. Nur … bin ich irgendwo in ein Loch gefallen und kann mich nicht aufrappeln, herauszuklettern. Nichts macht mir Spaß. Die meiste Zeit bin ich lustlos, ideenlos, fantasielos. Keine Ahnung, wie ich aus dem Tief herauskomme. Momentan nehme ich es einfach nur hin. Daher ist die Ablenkung durch das Spiel willkommen, auch wenn das heißt, dass ich den heutigen Tag genauso wie den gestrigen beenden werde. Sturzbetrunken.
„Finn. Finn ist genau der Richtige. Setz ihn auf die Liste“, höre ich Matt gegen den Lärm rufen. An seinem schielenden Blick und dem leichten Lallen kann ich feststellen, dass er vom Level Sturzbetrunken nicht mehr weit entfernt ist, dabei hat das Spiel noch gar nicht angefangen.
„Mo-ment, mein Lieber. Wovon sprichst du?“
„Der gute …“ Er guckt den Typen an und wirkt so, als habe er den Faden verloren. „Wie heißt du noch mal?“
„Kyle.“
„Sag ich doch.“ Matt nickt, als habe er es genau gewusst. „Der gute Kyle stellt einen Wettplan auf. Wenn die Highlander verlieren, lasse ich mir den Kopf blank rasieren.“
Ich lache. Als Fan der Highlander macht das wohl Sinn.
„Plus Spitzbart“, wirft Kyle ein.
„Na, dann viel Glück. Wir machen euch platt.“ Da ich in Canterbury aufgewachsen bin, unterstütze ich, genau wie der Rest meiner Familie, die Crusaders aus Christchurch. Immer und treu.
Matt setzt ein süffisantes Grinsen auf. „Und wenn ihr verliert, rasieren wir dir den Kopf blank.“
„Werden wir nicht. Und deinen Bart konnte ich eh nie leiden“, witzle ich.
„Kyle! Setz Finn auf die Liste.“
Erst protestiere ich, aber dann gebe ich nach. Was soll’s? Wir werden gewinnen, und wenn nicht, sind es ja nur Haare.
Matt ist in Fahrt und überredet noch mindestens zehn weitere Leute, ihre Namen auf Kyles Wettliste schreiben zu lassen. Viele davon kennt er nicht mal, und bei manchen bekomme ich den Eindruck, dass es ihnen eher um den Wettspaß geht als um das Spiel. Als das beginnt, wird es laut und feuchtfröhlich.
Die beiden Rugbyteams spielen ziemlich ausgeglichen. Auf dem Fernseher wird geworfen, gekickt und attackiert. Im Publikum wird lauthals gegrölt, gejubelt oder protestiert. Noch ist nicht klar, welche Mannschaft den Sieg nach Hause bringen wird … und wer von uns später seine Haarpracht verliert.
„Na, Finnbow“, sagt Matt, als ich mir ein neues Bier geholt habe und mich neben ihn setze. „Warum bist du heute so distanziert?“
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Wenn er betrunken ist, schielt er immer so lustig.
„Was meinst du?“
„So viele hübsche Frauen hier und keine in deinem Arm.“
„Ach, ich muss morgen arbeiten. Außerdem habe ich es gestern schon krachen lassen.“ Natürlich ist das kein echter Grund. Irgendwie kann ich mich heute einfach nicht in Stimmung bringen.
„Aber es ist doch mein Geburtstag. Und guck mal, die süße Kleine dort vorne schaut ständig zu dir herüber.“
Ich blicke in die Richtung, in die er zeigt. Tatsächlich zwinkert mir eine Frau zu und sieht so aus, als wäre sie in der Stimmung, zu flirten. Grundsätzlich habe ich nichts dagegen einzuwenden. Es gibt nur ein Problem.
„Nope. Komm mir bloß nicht mit einer Rothaarigen. Darauf steh ich nicht.“
„Seit wann das denn?“
„Seit … immer.“ Meine Stimme klingt trotzig.
„Bullshit. Bist du nicht neulich erst mit dieser … Wie hieß sie denn noch? Das Mädel, das so viel fotografiert hat. Mit der bist du doch sogar auf nen Roadtrip. Die hatte rote Haare.“
Matt ist sturzbetrunken und kann kaum klar sprechen, aber daran erinnert er sich?
„Das war Rorys Idee, nicht meine.“ Ich schnaube. Ist heute Lilly-Tag? Warum kommt das Thema ständig auf?
Irgendjemand Spendierfreudiger stellt ein ganzes Tablett mit Shots auf den Tisch, und ich bin der Erste, der nach einem der Gläser greift. Die johlende Menge stößt an und beinahe verpasse ich das Ende des Spiels. Beinahe.
3 – Lilly: Bonn
Vier Wochen später im Mai
Dreiundzwanzig Minuten nach vier. Sechs Minuten später als das letzte Mal, als ich auf den Wecker geschaut habe. Die Stille im Zimmer ist der perfekte Kontrast zu den lauten Gedanken, die durch meinen Kopf hetzen. Raphaels gleichmäßiger Atem erzählt mir, dass er den frühen Samstagmorgen dazu nutzt, wofür er da ist. Schlafen.
Nur mein Gehirn dreht sich seit mindestens einer Stunde im Kreis. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen.
Nach außen hin könnte es in meinem Leben nicht besser laufen. Raphael trägt mich auf Händen. Er gibt sich solche Mühe, zeigt mir unerbittlich, wie sehr er mich liebt. Wir haben viele Dinge unternommen. Restaurant- oder Kinobesuche. Hin und wieder kocht er sogar für mich, obwohl er das nicht gut kann. Und neulich hat er mich mit einem Kurztrip nach Brüssel überrascht.
In manchen Momenten bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass er recht hatte. Wir sind ein tolles Paar, und unsere Beziehung ist es wert, um dafür zu kämpfen. Und dann gibt es wiederum Augenblicke, in denen ich tief in mir drinnen weiß, dass ich einfach nicht mehr fühlen kann, was ich einst für ihn fühlte. Ich möchte es, strenge mich an. Wirklich. Und dennoch werde ich ständig vom Geschmack des Scheiterns heimgesucht.
So sehr ich es auch versuche, kann ich es nicht verhindern, dass Finn sich in meine Gedanken mischt. Er hat dort nichts verloren, und ich ärgere mich schrecklich über mich selbst, dass ich ihn überhaupt in meinen Kopf lasse. Sei frei, Lilly. Lass dich nicht in ein Büro sperren, wenn du das nicht machen möchtest. Diese Worte und die Art, wie er mich in dem Moment mit seinen Pukaki-Augen ansah, wollen nicht verschwinden.
Papas Kanzlei boomt. Gerade arbeitet er an der Übernahme der Steuergeschäfte der Firma Kassling. Und ja, ich wollte meinen beruflichen Weg überdenken. Will ich ja irgendwie immer noch, aber ich komme einfach nicht dazu. Ein weiteres Gespräch über meine Rolle in der Firma, wie wir es eigentlich vor meinem Urlaub angestrebt hatten, kam nicht zustande. Es ist zu viel zu tun. Ich gebe zu, dass ich mich auch nicht darum bemüht habe, denn die eine Veränderung, die seit meiner Rückkehr aus Neuseeland eintrat, zieht mir den Boden unter den Füßen weg.
Ein paar Tage hatte Jasmin es ausgehalten. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie zieht zu Rory. In den letzten Wochen hat sie jedes Detail organisiert. Job gekündigt. Visum besorgt. Eltern Bescheid gegeben. Sich noch mal mit allen Freunden getroffen. Und jede Minute, die sie frei hatte, mit mir verbracht.
Rory hat im Gegenzug bereits eine kleine Bleibe für sie beide in Christchurch aufgetrieben. Vor ein paar Tagen ist er in Deutschland gelandet. Er will Jasmin nicht einfach zu sich kommen lassen, sondern sie abholen und sich gleichzeitig ihren Eltern vorstellen. Was soll man dazu noch sagen? Mit ihm hat sie wirklich den Jackpot geknackt.
Obwohl er schon seit Dienstag hier ist, schaffen die beiden es erst heute Nachmittag, sich mit Raphael und mir zu treffen. Ein Pärchen-Picknick im Park. Jasmin hat es vorgeschlagen.
Rory wiederzusehen, macht mich unglaublich nervös. Dafür gibt es natürlich überhaupt keinen Grund. Außer den einen. Er ist nicht nur Finns Bruder, sondern sieht eben auch so aus wie er. Ich hoffe, dass mich das nicht zu sehr durcheinanderbringt.
Schon allein, dass ich darüber nachgrüble, ärgert mich unendlich. Die Sache mit Finn ist über zwei Monate her. Er ist grußlos abgehauen. Nichts von dem, was zwischen uns passiert ist, hat ihm etwas bedeutet. Es bin nur ich, die nicht loslassen kann, so scheint es.
Einundvierzig Minuten nach vier. Seufzend stehe ich auf und schleiche mich aus dem Zimmer.
Meine Schlaflosigkeit lässt mich den Samstagvormittag dazu nutzen, für das Picknick zwei Sorten Cupcakes zu backen, verschiedene Salate vorzubereiten und sogar Eistee zu mixen. Alles, nur nicht weiter grübeln.
Raphael staunt nicht schlecht, als er am späten Vormittag zahlreiche gefüllte Tupperboxen vorfindet. „Wer kommt denn alles? Ich dachte, es wären nur Jasmin und ihr Freund.“
Mit gerunzelter Stirn sehe ich auf das viele Essen. Ich habe es eindeutig übertrieben.
„Vielleicht bringe ich Mama danach ein paar Sachen vorbei.“
Weil ich nicht stillsitzen kann, verdrücke ich mich ins Badezimmer und nehme eine lange Dusche. Später miste ich noch meinen Kleiderschrank aus und bin heilfroh, als es endlich Zeit ist, sich auf den Weg zu machen.
„Weißt du, wo wir uns treffen?“ Raphael sieht mich fragend an, als wir schon eine ganze Weile durch den Park laufen. Er ist ziemlich ausser Puste, nachdem er eindeutig schwerer bepackt ist als ich.
„Ja. Unter der Trauerweide, wo wir damals immer für die Uni gelernt haben.“ Ich marschiere voran.
Wir gehen den kleinen Pfad entlang und überqueren die Wiese. Schon von Weitem können wir ein schwerverliebtes Pärchen sehen, das auf dem Gras liegt und knutscht. Je näher wir treten, umso seltsamer wird das Gefühl in meinem Magen.
Jasmin blickt auf und winkt uns zu. Die beiden erheben sich, als wir sie erreichen, und Rory umarmt mich herzlich.
„Lilly, wie schön, dich zu sehen“, sagt er strahlend.
Finns Größe. Finns Art. Und verdammt noch mal Finns Aussehen. Gesichtszüge, die mir noch immer so vertraut sind. Ein Lächeln, das auch Finns ist. Mein Herz klopft so sehr, als ob er es wäre. Das ist so falsch. Und dumm. Was soll das? Ich muss mir alle Mühe geben, um den Flashback-Fetzen Einheit zu gebieten. Hoffentlich merken mir die anderen meine Nervosität nicht an.
„Wie geht es dir?“, will Rory wissen.
Ich atme tief durch und straffe die Schultern. „Danke, gut. Toll, dass du da bist.“
Jasmin und ich begrüßen uns mit einem Küsschen auf die Wange, und die beiden Männer geben sich die Hand. Wir breiten unsere eigene Decke aus und setzen uns dazu. Die Trauerweide über uns raschelt gelegentlich im leichten Wind. Es ist der perfekte Frühlingstag für ein Picknick.
„Wie gefällt dir Bonn?“, fragt Raphael.
„Sehr gut“, antwortet Rory grinsend auf Deutsch. „Wir habe gestern ein Stadttour gemacht. Mit die Familie von Jasmin.“
Ich muss schmunzeln. In den Genuss, sein oder Finns Deutsch zu hören, bin ich letztendlich nicht gekommen. Jasmin hatte recht. Er kann es wirklich gut.
„Meine Familie hat ihn total in Beschlag genommen. Die nächsten paar Tage werden hoffentlich gemütlicher.“ Obwohl meine Freundin gerade übertrieben genervt tut, ist ihr Strahlen nicht zu übersehen. Es blendet richtig.
Die beiden erzählen uns, was sie noch vorhaben. Wir unterhalten uns tatsächlich die ganze Zeit auf Deutsch, müssen zwar langsam und verständlich sprechen, aber Rory versteht alles. Ich schaffe es, mich mit Hilfe des Small Talk etwas zu entspannen.
„Und dann geht’s auf und davon?“ Raphael klopft Jasmin freundschaftlich auf die Schulter. Seit ihrem Entschluss, auszuwandern, hat er staunend verfolgt, wie ernst ihr diese Sache ist.
„Aber hallo“, jauchzt sie und klopft zurück. „Lilly und ich sind nun Anna und Silke zwei Punkt null. Wartet es ab. In fünfundzwanzig Jahren sitzen wahrscheinlich unsere Kinder hier.“
Die Jungs rollen bei ihrem kindlichen Enthusiasmus lachend mit den Augen. Sie schlingt ihren Arm um mich und kichert. So schön dieser Moment auch sein könnte, so kann ich ihn doch nicht wirklich mit ihr teilen. Mein Herz ist zu schwer. Finn hat mir einst gesagt, dass er es nicht mag, zurückgelassen zu werden. Und nun weiß ich nur allzu gut, wie sich das anfühlt.
Als hätte Jasmin meine Gedanken gelesen, drückt sie mich fest an sich. „Und ich lasse meinen Lieblingsmenschen hoffentlich in den besten Händen.“ Ihre Worte sind mit einer gewissen Forderung an Raphael gerichtet.
In den vergangenen Wochen hatte ich mehrmals den Eindruck, dass sie die aufgefrischte Beziehung zwischen Raphael und mir auch aus eigenem Interesse begrüßt. Ohne Frage meint er es ernst mit mir und ist ein toller Mann. Die beiden haben sich immer schon gut verstanden. Aber ich komme nicht umhin, Jasmins Beweggründe zu erahnen. Sie macht sich Sorgen und möchte sicher sein, mich alleine lassen zu können.
„Kannst dich auf mich verlassen. Ich halte hier die Stellung, wenn ihr euch durch die Neue Welt kämpft.“ Raphael nimmt mich lachend in den Arm.
Alle meinen es so gut, aber ich schaffe es einfach nicht, mich an diesem Moment zu erfreuen. Außerdem bin ich doch kein kleines Kind.
„Und wir kommen euch auf jeden Fall besuchen“, höre ich Raphael sagen. „Ich habe so viele tolle Dinge über das Land und all die verrückten Sachen gehört, die man dort machen kann.“
„Logo. Ihr seid immer willkommen.“ Rory klatscht sich mit ihm ab. „Unsere Verrücktheiten kannst du dir auf dem Thompson-Kanal ansehen. Lilly kennt ihn ja schon.“
Nicht doch. Natürlich habe ich Raphael viele schöne Bilder vom Urlaub gezeigt. Aber die Thompson Twins und alles, was mit Finn zu tun hat, hielt ich von ihm fern. Oder auch von mir.
„Lilly, hast du das neueste Video gesehen?“, will Jasmin von mir wissen.
„Vermutlich nicht.“
Bestimmt nicht.
„Ach nö“, protestiert Rory. „Das ist total verwackelt in einer Bar. Keine Ahnung, was Finn sich dabei gedacht hat, es hochzuladen.“
Jasmin hört gar nicht zu und tippt bereits auf ihrem Smartphone herum. „Hier. Das musst du dir ansehen. Unglaublich, was Haare für einen Unterschied machen.“
Okay, jetzt bin ich doch neugierig.
Sie hält mir ihr Handy unter die Nase, und schon gleich flimmert ein unscharfes Video vor mir, in dem viele laute und betrunkene Leute zu sehen sind. Und dann erkenne ich ihn. Mitten im Gewirr sitzt Finn, leert ein Schnapsglas und lehnt sich zurück. Ehe ich realisiere, was passiert, schwingt der Mann hinter ihm ein Gerät und – wusch – eine ganze Bahn von Finns Haaren ist verschwunden. Ein paar flinke Handbewegungen folgen, und schon ist Finns Kopf so kahl wie der eines Babys.
Mein Mund klappt auf. „Was … was tut er denn da?“
Ich meine … ich kann sehen, was er macht, nur fällt es mir schwer, keine Gefühlsregungen zu zeigen. Nachdem die drastische Veränderung vollzogen ist, steht er unter dem Jubel der anderen auf und genehmigt sich einen weiteren Schnaps. Das Video ist so verwackelt, dass sich das neue Bild von Finn nicht in mein Bewusstsein brennen will.
„Sieht ja ziemlich wild aus.“ Raphael, der mir über die Schulter guckt, schüttelt den Kopf.
Rory grinst schief. „Die Crusaders hatten beim Rugby verloren. Der Wetteinsatz war die Haarpracht.“
Raphael lacht ungläubig auf. „Das nennt man dann wohl Treue zum Team.“
„Wenigstens kann ich sehen, wie so eine Frisur an dir aussehen würde.“ Jasmin wuschelt Rory durch die Haare. „Sehr verwegen.“
Wortlos gebe ich ihr das Telefon zurück und weiß jetzt schon, dass ich den Drang nicht widerstehen werde, mir das Video nachher noch mal anzusehen. Es ist nicht so, als ob der Kurzhaarschnitt Finn entstellt, aber trotzdem muss ich mich daran gewöhnen.
‚Er sah nicht gut aus. So betrunken und verwackelt. Was, wenn er abstürzt?‘, flüstert mir Tâwhirimâtea seine Bedenken zu.
‚Na, das ist ja wohl sein Problem‘, blafft Tangaroa zurück.
Prompt melden sich meine Gedanken, Überlegungen und Zweifel in Form der zwei neuseeländischen Götter wieder. Und diesmal schlage ich mich auf Tangaroas Seite. Finns Probleme, wenn er denn welche hat, gehen mich nichts an.
Den Rest des Nachmittages reden wir glücklicherweise über andere Themen. Wie zum Beispiel Jasmins Pläne in Neuseeland. Erst mal wird sie mit dem Working-Holiday-Visum einreisen, was es ihr erlaubt, zu arbeiten. Aber natürlich will sie nicht einfach irgendeinen Job aufgreifen, sondern an ihre Karriere als Investmentbankerin anknüpfen. Ihren Masterabschluss möchte sie auch nicht hintenanstellen. Es gibt also noch jede Menge für sie zu recherchieren und zu tun.
Rory, der sich gerade mitten in seinem Meeresbiologiestudium befindet, gibt kleinlaut zu, dass Anna ihm das Geld für den Flug nach Deutschland geliehen hat. Ihr war es wichtig, dass er sich bei Jasmins Familie vorstellt. Typisch Anna. Falls Jasmins Zukunft wirklich dauerhaft bei der Thompson-Familie liegen sollte, kann sie sich glücklich schätzen.
***
Jasmin und ich schaffen es, uns noch zweimal während der Woche zu treffen. Am Montag arrangiert sie ein weiteres Date zu viert. Einen Restaurantbesuch. Und am Mittwoch kommen sie und Rory sogar bei meiner Mutter vorbei, um Hallo zu sagen. Ich wusste von Anfang an, dass sie in den Tagen unmittelbar vor ihrer Abreise sehr beschäftigt sein würde. Trotzdem schnürt mir der Gedanke, dass sie bald nicht mehr da sein wird, die Luft ab.
Als ich am Freitagabend am Flughafen stehe und sie verabschiede, verlangt es mir alles ab, meine Tränen zurückzuhalten. Sie geht. Ich bleibe zurück. Zu behaupten, dass ich sie vermissen werde, wäre die Untertreibung des Jahrzehnts.
„Melde dich bitte gleich, wenn du angekommen bist. Egal zu welcher Zeit.“ Bei dem Gedanken, dass das erst irgendwann morgen Nacht sein wird, ist mir schwummrig.
„Klar mach ich das, Süße. Ich werde dich so oft anrufen, dass du gar nicht bemerkst, dass ich weg bin.“
Das bezweifle ich.
Wir umarmen uns. Keine Ahnung, wann wir uns wiedersehen. So richtig, von Angesicht zu Angesicht. Und als ich sie nun von mir schiebe, haben wir beide Tränen den Augen.
„Und du …“ Sie nimmt meine Hände in ihre. „… gehst heute noch feiern, okay? Ich will keine trübselige Lilly alleine in ihrer Wohnung.“
Aus mir kommt ein Laut, der irgendwo zwischen einem Schluchzen und einem Lachen liegt.
„Ich meine es ernst. Schnapp dir Raphael und geh ins Fizzi. Es ist Freitag. Oder ruf Bille aus meinem Volleyballteam an. Die ziehen bestimmt um die Häuser.“
„Ich werde dich vermissen“, platzt es aus mir raus. Wie soll ich ohne sie klarkommen?
Noch mal drücken wir uns, und Rory zieht Jasmin langsam mit sich in Richtung Security-Check, sonst würden wir uns wohl nicht trennen. Ich sehe ihnen nach, bis sie verschwunden sind. Jasmins Eltern machen sich bemerkbar. Sie wollen zurückfahren, und da ich mit ihnen gekommen bin, sollte ich mich anschließen.
Die Fahrt verläuft still. Erst als wir Bonn näherkommen, fragen sie, wo sie mich hinfahren sollen. Ich überlege. Raphael ist auf einer Geburtstagsfeier eines Kollegen und hat mich gebeten, nachzukommen, wenn Jasmin abgeflogen ist. Aber ich will da jetzt nicht hin. Mama hat ebenfalls gefragt, ob ich vorbeikommen möchte. Doch auch danach fühle ich mich gerade nicht. Irgendwie brauche ich etwas anderes. Jasmins Worte kreisen in meinem Kopf. Sie will keine trübselige Lilly alleine zu Hause. Der Gedanke, einsam in der Wohnung zu sitzen, jagt mir tatsächlich ein Schaudern über den Rücken.
Schließlich bitte ich Jasmins Eltern, mich vor dem Fizzi rauszulassen. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich da machen werde. Ich bin noch nie alleine in eine Bar gegangen. Aber heute ist Freitag. Heute wäre unser Fizzi-Tag. Den haben wir uns in den letzten Wochen erhalten, obwohl ich wieder mit Raphael zusammen bin.
Also schiebe ich mich kurze Zeit später durch die Menschenmassen. Wie immer ist die Bar brechend voll und die Luft genährt von Alkohol und schwitzenden Menschen. Die Barkeeper jonglieren mit Flaschen und mixen Drinks im Sekundentakt. Da ich mich nicht einzeln an einen Tisch setzen will, stelle ich mich an den Tresen und bestelle mir einen Daiquiri. Der ist heute als Cocktail des Tages angepriesen. Und jetzt? Ich gucke mich um. Überall unterhalten sich die Leute, lachen und haben eine gute Zeit.
Was für eine dumme Idee, alleine hierherzukommen. Ich bin nicht total schüchtern, aber fremde Menschen anzuquatschen wie Jasmin, werde ich nicht. Schnell nehme ich einen Schluck von meinem Cocktail, um mir etwas zu tun zu geben.
Dann fummle ich mein Handy hervor. Wem könnte ich eine Nachricht schreiben? Ein paar Minuten springe ich sinnlos durch verschiedene Apps und bleibe schließlich bei Instagram hängen. Von Jasmin sehe ich bereits das neueste Update. Ein Foto von Rory und ihr im Flugzeug kurz vor dem Start. Auf dem Bild kann ich ihre verweinten Augen zwar erkennen, trotzdem strahlt sie übers ganze Gesicht. Sie ist so glücklich, und ich freue mich für sie. Sie hat die Thompson Twins verlinkt, und bevor ich es verhindern kann, bin ich schon wieder auf ihrer Seite. Wie so oft in den letzten Tagen, seit mir Jasmin das Video von Finn unter die Nase gehalten hat. Da Rory und Finn räumlich getrennt sind, unterhalten sie ihre Twin-Seite momentan nicht gemeinsam. Während Rory jüngst Fotos von einer Studentenparty in Christchurch und seinem Trip nach good old Germany gepostet hat, berichtet Finn von seinen Abenteuern in Queenstown. Noch immer trägt er die Haare raspelkurz, und ich muss zugeben, dass ihm das gar nicht so schlecht steht. Seine Narbe an der Stirn kommt besser zur Geltung. Ich scrolle durch die Bilder, bis ich bei den Aufnahmen vom Paragleiter-Festival lande. Für das hat er mich einfach so sitzen lassen. Er und Ash fliegen durch die Lüfte.
Genervt stecke ich das Handy weg. Warum tue ich mir das bloß an? Ein erneuter Schluck von meinem Daiquiri und ein Blick umher. Ich sollte gehen.
„Hi, Lilly“ begrüßt mich Nina, eine der Kellnerinnen. „Alles klar bei dir?“
„Hi. Ja. Alles gut.“
Sie stellt ihr Tablett mit leeren Gläsern auf dem Tresen ab. „Sitzt du heute gar nicht an deinem üblichen Tisch?“
„Äh … Nein. Alleine wollte ich nicht dort sitzen.“
Sie zieht die Stirn kraus.
„Jasmin ist vorhin abgeflogen. Ich brauche wohl einen neuen Bar-Buddy“, erkläre ich schulterzuckend.
„O wow. Ist es schon so weit? Kommt mir vor, als hätte sie gestern erst von ihren Neuseelandplänen erzählt.“
Mir auch.
„Nina!“, kommt es von Kevin, einem der Barkeeper. „Wie wäre es mit Arbeiten?“ Er nickt zur Seite, wo sich bereits jede Menge Getränke türmen.
„Bin gleich wieder da“, sagt sie zu mir, ohne sich stressen zu lassen.
Tatsächlich entwickelt sich so etwas wie ein Gespräch zwischen uns. Nina kommt zwischen ihren Getränkerunden zu mir, und wir quatschen über Jasmin, Neuseeland und die schönen Orte dort. Obwohl ich Nina durch meine Besuche in der Bar kenne, blieb sie trotzdem immer eine flüchtige Bekannte. Ich ziehe mein Telefon heraus und zeige ihr ein paar Bilder, die ich gemacht habe.
„Wow. Die sind wirklich toll.“ Mit echtem Interesse swipet sie durch die Aufnahmen. Urlaubsfotos schaut sich längst nicht jeder gerne an.
„Die schöneren Fotos sind auf meiner Kamera. Das Handy habe ich nur benutzt, wenn ich keine Zeit hatte, sie herauszuholen, oder zu faul war.“
„Du hast ein Händchen dafür. Solche Bilder könnte ich gut für meine Abschlussarbeit nächstes Jahr gebrauchen.“ Sie kichert. „Vielleicht sollte ich mir ein Ticket nach Neuseeland buchen.“
„Was für eine Abschlussarbeit ist das?“, frage ich und stelle kleinlaut fest, dass ich über sie nichts weiter weiß, als dass sie im Fizzi kellnert.
„Ich studiere Graphikdesign.“
„Das hört sich interessant an.“
„Ja. Für mich ist es das auch. Ich war immer schon ein Kreativling und wollte das unbedingt in den Job, den ich machen möchte, einbauen.“ Sie lacht. „Na ja, noch stecke ich im Studium.“
Ich bin mir nicht ganz sicher, was genau Nina in diesem Moment in mir auslöst, doch die Worte Kreativling und Job, den ich machen will hallen in meinem Kopf wider und wider. Es kommt mir vor, als habe sie ein Licht angeknipst. Finn hat einst in die Richtung gezeigt, und Nina weist mir einen Weg. Zwischen ihren Getränkerunden quetsche ich sie im Laufe der nächsten Stunde über ihr Studium aus. Meine Gedanken spinnen eine fixe Idee, und noch weiß ich nicht, ob diese von den drei Daiquiris rührt, die ich inzwischen intus habe, oder ob sie ein ernsthafter Versuch ist, meinem Leben eine Kursänderung zu geben.