Kaptiel 1
Sarah
„Etwas weiter nach rechts.“
Vorsichtig bewegt Carlos die drei Meter große Tanne ein kleines Stück.
„Stopp, stopp. Das ist zu weit. Ein paar Zentimeter zurück“, ordnet Frau Herald an, während um sie herum Gäste durch die Empfangshalle des Hotels flitzen, ankommen und abreisen. Manche bleiben kurz stehen und schauen dem Geschehen zu. Das Aufstellen des Weihnachtsbaumes bringt jedes Jahr ein festliches Gefühl mit sich. Der Platz direkt vor der gemütlichen Sitzecke ist perfekt für ihn.
Carlos, der als Portier eigentlich andere Sachen zu erledigen hätte, schiebt den Baum geduldig in die entgegengesetzte Richtung. Gespannt wartet er auf Frau Heralds Urteil.
„Hm. Irgendwie wirkt die Tanne immer noch schief.“ Sie kneift die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. „Vielleicht liegt es daran, dass rechts unten dieser große Ast herausragt.“ Sie verschränkt die Arme und guckt sich den Baum von mehreren Seiten an, während das gute Stück von Carlos im Schweiße seines Angesichts stillgehalten wird.
„Dreh ihn mal um ein Viertel“, ordnet sie an.
Jan steht neben mir. Sein ganzer Körper bebt, denn er kann sich das Lachen kaum noch verkneifen. Ich muss zugeben, dass ich auch große Mühe damit habe und beiße mir immer wieder auf die Zunge.
Schon letztes Jahr war ich zufällig zum Dienst eingeteilt, als der Weihnachtsbaum für die Hotelhalle aufgestellt wurde und genoss das unfreiwillig komische Schauspiel. Diese Saison knüpft nahtlos daran an. Inzwischen hat der arme Carlos die Tanne einmal im Kreis gedreht, und Frau Herald ist immer noch nicht zufrieden. Sie besitzt zusammen mit Herrn Herald das Anton-Xaver Hotel, doch während er das Familienunternehmen leitet und jeden Tag anzutreffen ist, lässt sie sich für gewöhnlich nur zwei bis dreimal im Jahr im Hotel blicken. Das Aufstellen des Weihnachtsbaums ist einer der Termine und von allen Beteiligten gefürchtet. Der Vorgang kann mehrere zermürbende Stunden dauern.
Passend spielt im Hintergrund ein Orchester ‘Oh Tannenbaum’, denn Frau Herald hat uns ihre Playlist mitgebracht, die in den nächsten vier Wochen rauf und runterlaufen wird.
Ein Mann, der inzwischen vor dem Rezeptionstresen steht, räuspert sich, und ich reiße mich vom Geschehen am Baum los. Schnell trete ich auf ihn zu.
„Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Hallo, Frau …“ Er rückt die Brille auf seiner Nase zurecht und liest meinen Namen vom Schildchen, das ich trage. „… Sarah Kellermann. Wir sind die Müllers. Für uns ist ein Zimmer gebucht.“
Er und seine Frau strahlen mich an und sind sichtlich voller Vorfreude auf ihren Aufenthalt. Mit solchen Gästen macht der Job Spaß. Ich begrüße die beiden, überprüfe die Reservierung kurz und schiebe ihnen den Papierbogen zu, auf dem sie mit einer Unterschrift die angegebenen Daten bestätigen sollen.
„Sie haben bis Freitag reserviert“, lese ich vom Monitor ab.
„Ja. Eine weihnachtliche Städtereise. Ein Geschenk der Firma meines Mannes, als er in Rente ging“, erzählt Frau Müller.
„Das ist ja schön. Wenn ich Ihnen mit Auskünften helfen kann, lassen Sie es mich wissen“, biete ich lächelnd an.
„Das wäre wunderbar. Wir waren noch nie in München.“
Ich händige ihnen die Schlüsselkarte für ihr Zimmer aus und falte dann einen kleinen Stadtplan auf, um zu erklären, welche Dinge sehenswert sind.
Neben mir klingelt das Telefon unermüdlich und hinter dem Ehepaar Müller reiht sich bereits der nächste Gast ein. Da ich beschäftigt bin und mich weder um das eine noch um das andere kümmern kann, gucke ich mich suchend nach Jan um. Der steht weiter vorne an der Rezeption und flirtet mit einer der Kellnerinnen.
„Jan. Könntest du mal übernehmen?“, frage ich freundlich, aber bestimmt.
Enthusiastisch, als wäre er der Retter des Tages, kommt er angerauscht und begrüßt den wartenden Gast. Nachsichtig grinse ich. Typisch Jan. Er wird im Sommer seine Ausbildung zum Hotelfachmann abschließen, und wenn dieser Job auch oft stressig sein kann, lässt Jan sich nie aus der Ruhe bringen.
Wie an den meisten Montagen stehen viele Anreisen an. Die Freizeitgäste vom Wochenende sind abgereist, und Geschäftsleute beziehen die Zimmer. Ein Kommen und Gehen. Als ich das nächste Mal aufblicke, sehe ich Carlos auf der großen Leiter. Vorsichtig befestigt er die Lichterkette am Baum und folgt den Instruktionen von Frau Herald.
„Was habe ich verpasst?“, höre ich die Stimme von Laura, der Empfangschefin, hinter mir. Sie kommt aus dem angrenzenden Büro und gesellt sich zu mir.
„Nicht viel. Es geht langsam voran und dauert sicherlich noch eine Weile, bis der Weihnachtsbaum fertig ist.“
Sie lacht herzhaft und guckt auf die Uhr. „Ich muss mal eben in das Meeting für die zwei großen Weihnachtsfeiern nächste Woche. Jan und du kommt klar, oder?“
„Ja, geh nur. Falls wir plötzlich untergehen, rufe ich dich auf dem Handy an.“
Sie hebt den Daumen. „Ach, und vergiss nicht, dass Herrn Keimels Abreise noch ansteht.“ Sie verdreht die Augen. „Wenn es Probleme gibt, dann melde dich, und ich komme sofort.“
Missmutig nicke ich. Besagter Gast ist ein bisschen … schwierig, um es vorsichtig auszudrücken. Er reiste am Freitag an und blieb nur übers Wochenende. Trotzdem hat er sein Hotelzimmer in der kurzen Zeit zweimal gewechselt, weil er beide Male etwas auszusetzen hatte. Zu allem Überfluss hat ihm in unserem Hotelrestaurant einer der Kellner versehentlich Soße über sein Hemd gekleckert und zusätzlich wurde an einem der Tage sein Zimmer nicht gründlich genug gereinigt. So lautete zumindest seine Beschwerde. Insgesamt brachte ihm das einen Preisnachlass von fünfzig Prozent ein. Meiner Meinung nach gar nicht so schlecht. Man muss sich nur oft genug beschweren und schon kann man sich das teuerste Hotel leisten. Sollte ich vielleicht auch mal ausprobieren, doch natürlich weiß ich, dass ich mich nie so verhalten könnte.
Seufzend sehe ich Carlos dabei zu, wie er von der Leiter steigt. Die Lichter sind an den Ästen befestigt, und Frau Herald scheint zufrieden. Sie macht sich daran, ihren silbernen Baumschmuck zu verteilen. Dazwischen hängt sie lilafarbene Engelfiguren. Jedes Jahr dasselbe. Es ist nicht so, dass ich Silber oder Lila nicht mag, aber ich finde Rot und Gold viel festlicher. Mein Weihnachtsbaum zu Hause wird jedenfalls diese Farben tragen.
Gedankenverloren schaue ich den großen Tannenbaum vor mir an. Elegant und pompös ist er mit seiner drei Meter hohen Pracht allemal. Mit der Musik im Hintergrund kommt langsam wirklich Weihnachtsstimmung auf.
Jan reißt mich aus meiner weihnachtlichen Trance, als er sich hinter mir versteckt. „Ich checke den Kerl nicht aus“, flüstert er mir zu.
Oh. Herr Keimel kommt direkt auf uns zu. Sein grau meliertes Haar wippt bei jedem seiner Schritte.
„Ist schon gut. Ich übernehme das“, lasse ich Jan wissen. So ungern ich das auch mache, ist es wohl besser, wenn ich es tue anstatt unser Azubi. Ich hole tief Luft und setze ein Lächeln auf. Dann mal los.
„Können Sie jemanden auf mein Zimmer schicken, um das Gepäck abzuholen? Ich checke aus.“ Mit steinerner Miene wirft Herr Keimel mir die Zimmerkarte auf den Rezeptionstresen und kramt in seinem Portemonnaie.
„Selbstverständlich. Gerne, Herr Keimel.“ Mein Blick wandert zu Carlos, der den Gast gehört hat und sich den Gepäckwagen schnappt.
„Zimmer 506“, rufe ich Carlos zu.
Mit einem Nicken lässt er mich wissen, dass er schon unterwegs ist.
Ich will die nächste Formalitätsfrage eigentlich nicht stellen, weil nichts Gutes kommen kann, aber sie gehört zum Job. „Hatten Sie einen angenehmen Aufenthalt, Herr Keimel?“
Er lacht sarkastisch auf. „Wenn Sie glauben, dass ich hier nochmal residiere, haben Sie falsch gedacht. Dass diese Absteige als Fünf-Sterne-Hotel verkauft wird, ist eine Frechheit.“
„Es tut mir sehr leid zu hören, dass Ihnen der Service nicht zugesagt hat.“
Eigentlich kann ich solche Situationen ganz gut meistern, und gerade für diesen Gast hat Laura strikte Instruktionen hinterlassen. Leider fallen die nun in sich zusammen wie ein Kartenhaus, denn Frau Herald bekommt die Misere mit und will Herrn Keimels Beschwerde nicht auf ihrem Haus sitzen lassen.
„Darf ich erfahren, was hier los ist?“ Sie reicht Herrn Keimel ihre Hand. „Ich bin die Besitzerin des Hotels. Wie kann ich weiterhelfen?“
Manchmal ist man gut damit beraten, einfach auf Durchzug zu schalten. Jetzt zum Beispiel.
Herr Keimel holt tief Luft und redet die folgenden Minuten ohne Punkt und Komma. Der Lärm von der Straße, den er in seinem ersten Gästezimmer ertragen musste, war verstörend. Am nächsten Tag wechselte er sein Zimmer und landete in einem unbequemen Bett. Das Reinigungspersonal ist zu nachlässig. Die Mitarbeiter im Restaurant sind unfähig. Und zu guter Letzt hat ihm das Essen nicht geschmeckt.
Frau Herald hört ihm zu, nickt gelegentlich und setzt eine mitfühlende Miene auf. Keine Ahnung, was sie denkt. Ich wähle vorsichtshalber Lauras Nummer. Wenn beim Check-out auch noch was schiefgeht, will ich es nicht ausbaden.
„Sie müssen Ihr Personal besser in den Griff bekommen. Hier läuft allerhand schief“, kommt Herr Keimel nun endlich zum Ende.
„Selbstverständlich werde ich die Missstände hinterfragen. Darauf können Sie sich verlassen.“
Ach, wie schön. Sie fällt ihrem Personal in den Rücken. Innerlich seufze ich.
„Was kann ich tun, um Sie etwas glücklicher abreisen zu sehen? Wir wollen Sie doch als Gast nicht verlieren.“
Ich verstehe ja, dass Frau Herald gern zufriedene Gäste hat, aber den brauchen wir nicht. Er hat das ganze Wochenende nur Ärger gemacht, und wirklich jeder Mitarbeiter ist froh, ihn gehen zu sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er beim nächsten Mal glücklicher wäre. Es gibt Leute, die sind einfach gerne unzufrieden.
Als Laura neben mir auftaucht und die Situation zu klären versucht, ist die Sache schon gelaufen. Nach einigem Hin und Her erlässt Frau Herald die gesamten Kosten, damit Herr Keimel auch bei seinem nächsten Aufenthalt in München unser Hotel wählt.
Die beiden verabschieden sich mit einem kräftigen Händedruck, und glücklicherweise steht nun auch Carlos mit dem Gepäck bereit.
„Bitte setzen Sie die Beschwerden von diesem Gast auf die Themenliste für das morgige Meeting der Abteilungsleiter“, weist Frau Herald Laura an, als Herr Keimel die Lobby verlassen hat. „Solche Servicefehler können und müssen wir vermeiden.“ Dann widmet sie sich wieder dem einzigen Grund, weshalb sie überhaupt im Hotel herumspukt – dem Weihnachtsbaum.
Laura verdreht die Augen. „Wenn sie dem Tunichtgut die ganze Rechnung erlässt, könnte sie ihrem Personal auch mal ein paar Euro mehr zahlen“, murrt sie und legt sich sofort die Hand auf den Mund. „Das habe ich nicht offiziell gesagt.“
Ich lache. „Geht klar.“
Den ganzen Abend arbeiten wir emsig vor uns hin. Wir bearbeiten neue Anreisen, Gästewünsche und verbinden Telefonate. Irgendwann ist der Weihnachtsbaum fertig geschmückt und glänzt nun in Silber und Lila. Frau Herold verabschiedet sich, und langsam wird es in der Hotelhalle ruhiger.
„Wie viele Gäste fehlen noch?“, will Laura von mir wissen.
Schnell sehe ich im Computer nach. „Zehn.“
„Kommst du alleine zurecht? Dann mache ich im Büro die Zimmerzuteilung für morgen.“
„Ja. Außerdem müsste Jan gleich aus seiner Pause zurück sein.“
Irritiert guckt sie auf eine der runden Uhren, die hinter uns die Wand zieren. Die etwas größere in der Mitte, deren Schildchen darunter ‘München’ anzeigt, verrät uns, dass es kurz vor neun Uhr ist. Die anderen vier weisen die Tageszeit in London, New York, Tokyo und Sydney aus.
„Wo bleibt er eigentlich?“
Ich zucke mit den Schultern. Jan dehnt seine Pausen gerne etwas länger aus.
„Wenn er zurückkommt, dann schick ihn zu mir. Unglaublich, wie er den Bogen immer überspannt.“
Grinsend nicke ich. Wirklich Ärger hat Jan noch nie bekommen. Er versteht es, Laura mit ein paar Sprüchen und einem charmanten Lächeln zu beruhigen. Sie und auch der Rest des Teams können ihm nie lang böse sein. Und wenn er seinen Dienst ausübt, glänzt er in seiner Rolle. Denn genauso wie er seine Kollegen um den Finger wickeln kann, tut er das auch mit den Gästen.
Laura verschwindet im Büro hinter der Rezeption. Ich vervollständige die Gästekarteien und lausche der Weihnachtsmusik, die immer noch im Hintergrund dudelt. Im Spätdienst genieße ich diese Momente, in denen die Aufgaben des Tages fast erledigt sind und Ruhe einkehrt.
„Hansen“, durchfährt eine Stimme den Klassiker ‘Oh du Fröhliche’.
Ich blicke auf und sehe einen Geschäftsmann, der vor dem Empfangstresen steht und geschäftig auf sein Handy eintippt.
„Guten Abend“, begrüße ich ihn höflich.
Er beachtet meine Worte nicht, sondern konzentriert sich weiter auf sein Gerät. Innerlich schüttle ich den Kopf. Manche Leute haben wirklich gar keine Manieren.
Kurz frage ich mich, ob ich ihn schon einmal gesehen habe. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ich gebe den Namen in den Computer ein und stutze, denn auch der sagt mir etwas. Aber was? Ben Hansen. Ein Gast, der schon mal hier war? Nö. Jemand von früher, aus Azubijahren? Nein, auch nicht. Auf jeden Fall sieht der Kerl nicht schlecht aus.
„Das dauert ja ewig. Soll ich in der Lobby schlafen?“ Zum ersten Mal blickt er auf. Karamellfarbene Augen, die mich fast durchbohren.
„Ähm … Entschuldigung. Also … Herr Ben Hansen?“
Er seufzt übertrieben laut. „Das habe ich doch schon gesagt, oder gibt es zwei davon?“
Schnell drucke ich den Papierbogen aus, auf dem die Daten stehen, die seine Firma bei der Buchung angegeben hat, und schiebe ihn über den Empfangstresen. „Könnten Sie bitte das Dokument vervollständigen und unterschreiben?“
„Das müsste meine Assistentin längst gemacht haben, als sie das Zimmer reserviert hat. Muss ich diesen Firlefanz echt ausfüllen? Ich habe einen langen Tag hinter mir.“
Ich auch, mein Freund. Trotzdem bin ich freundlich zu dir – das würde ich ihm am liebsten laut ins Gesicht sagen.
Ächzend, als hätte ich ihn gebeten, drei Runden um den Block zu laufen, fängt er an, seine Daten in den Bogen zu notieren. Nochmal wage ich einen Blick auf ihn, und plötzlich macht mein Herz einen riesigen Satz. Nun weiß ich es.
Ben Hansen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Das währte zwar nicht lange, und wir waren noch ziemlich jung, trotzdem habe ich keinen Zweifel. Er war der tollste Junge in unserer Klasse. Immer einen flotten Spruch auf den Lippen, niemals verlegen. Alle Mädels in unserem Jahrgang waren unsterblich verliebt in ihn. Ich auch.
Meine Güte, er sieht toll aus.
Sein Telefon klingelt.
„Ja“, bellt er hinein. „Ich bin jetzt endlich im Hotel. Was für ein Tag.“ Sein Ton klingt genervt. „Nein. Ich stehe mir die Beine an der Rezeption in den Bauch. Das Personal ist nicht das Schnellste.“
Entsetzt blicke ich auf. Hat er das gerade wirklich gesagt?
Er beachtet mich gar nicht. Ernüchtert nehme ich hin, dass der tolle, lustige Junge von einst einem Meckermuffel gewichen ist. Ohne Zweifel erinnert er sich nicht an mich, und falls er es doch tut, zeigt er keinen Hinweis darauf.
„Wegen eines Unfalls stand ich während der Rushhour ewig im Stau und musste mich mit dem Mietwagen durch sämtliche Einbahnstraßen der Stadt kämpfen, um zum Hotel zu gelangen. Als ich es endlich erreicht hatte, fand das Auto in dem winzigen Parkhaus beinahe keinen Platz. Dann funktionierte der Fahrstuhl in die Lobby nicht, und ich musste um das ganze Haus herumlaufen, um den Eingang zu finden.“
Ups. Der Aufzug ist schon wieder kaputt? Sofort mache ich eine Notiz, damit die Kollegen morgen früh gleich jemanden für die Reparatur verständigen können.
Ben Hansen stößt seinen Atem scharf aus. „Und jetzt braucht die gute Dame vom Empfang ewig, um mir ein Zimmer zu geben.“
Weiß er, dass ich ihn hören kann?
„Ja. Du, ich ruf dich zurück, wenn ich endlich in mein Hotelzimmer darf.“ Er beendet das Gespräch und sieht mich herausfordernd an.
„Und? Haben Sie ein Zimmer für mich?“
„Selbstverständlich, Herr Hansen.“ Ich setze ein Lächeln auf. „Sie bleiben bis … Freitag?“, stelle ich meine üblichen Fragen und stöhne innerlich. Eine ganze Woche? Nicht doch! Vielleicht sollte ich mir spontan Urlaub nehmen.
„Wird sich nicht vermeiden lassen“, antwortet er. „Gleiches Spiel nächste Woche“, schiebt er hinterher.
Das auch noch.
Mir schwirrt der Kopf. Wie konnte aus dem unbeschwerten Jungen so ein unsympathischer Typ werden?
Schnell betätige ich die Taste, die ihn im System eincheckt, um ihn endlich loszuwerden. Mit einem Ruck ziehe ich die Zimmerkarte durch das Schlüsselsystem, damit sie für sein Hotelzimmer codiert wird und … erhalte eine Fehlermeldung. So ein Mist.
Das kommt zwar schon mal vor und ist normalerweise kein Problem, aber da ich den Vorgang nun wiederholen und die Zimmernummer manuell eingeben muss, dauert der Check-in länger.
Ben Hansen lehnt den Arm an den Tresen, stützt den Kopf auf seiner Hand ab und stößt seinen Atem hörbar aus. Er sieht mir bei jeder meiner Taten genau auf die Finger, was mich schrecklich nervös werden lässt.
Als ich die dumme Schlüsselkarte endlich erstellt habe, nehme ich einen der kleinen Papierumschläge, in die solche Kärtchen gesteckt werden. Nun versuche ich, die Zimmernummer darauf zu notieren und verwische versehentlich die Tinte mit meinen schweißnassen Händen. Das darf doch nicht wahr sein.
Gerade will ich einen neuen Umschlag hervorholen, als er über den Tresen greift und sich die Zimmerkarte schnappt.
„Sie brauchen nichts weiter aufschreiben. Wie ist die Nummer? Ich werde sie mir merken.“ Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn.
„212“, sage ich und bin mit meinen Nerven am Ende. Ich hatte schon mit vielen schwierigen Gästen zu tun. Warum lasse ich mich ausgerechnet von ihm so aus der Fassung bringen?
„Können wir Ihnen mit dem Gepäck helfen?“, frage ich wie im Automodus.
Carlos ist bereits nach Hause gegangen, daher muss Jan das übernehmen. Hastig will ich sehen, wo der bleibt, und laufe glatt gegen ihn.
„Ups. Nicht so stürmisch“, scherzt er.
Ich kann Ben Hansen lachen hören. „Nein, danke. Hab nur einen kleinen Koffer und mache das lieber selbst.“
Benommen schaue ich zu, wie er mit seinem Gepäck in den Aufzug steigt, und sich die Tür hinter ihm schließt.
Endlich ist er weg. Es kommt mir vor, als wenn ein ganzer Felsen von meiner Schulter fällt.
„Was war das denn?“, will Jan wissen.
Ich seufze und schüttle den Kopf. „Frag lieber nicht.“
Nachdem sich Jan Lauras Predigt wegen seiner ausgedehnten Pausen angehört hat, machen wir uns an die letzten Aufgaben des Tages, drucken das Übergabeprotokoll, räumen auf. Ein Blick auf die Uhr. Noch eine Stunde, bis der Nachtportier übernimmt.
Durch den Bogen aus dem Restaurantbereich kommen Ollie und Carmen auf die Rezeption zu. Heute bleibt mir wirklich nichts erspart.
„Hallöchen“, grüßt Ollie uns. „Wir sind schon fertig. Im Restaurant war es sehr ruhig.“ Er reicht mir seine Abrechnung.
Ich nicke und mache mich an die Arbeit, die Belege zu kontrollieren, damit ich mich nicht mit den beiden unterhalten muss.
Carmen legt ihre Quittungen auf den Tresen und schmiegt sich an Ollies Arm.
„Wollen wir noch in Maritas Bar vorbeischauen?“, fragt sie ihn, während ich ihre Unterlagen im System überprüfe.
„Nö. Ich glaube, ich will lieber aufs Sofa“, antwortet er.
„Ein kuscheliger Pärchenabend gefällt mir sowieso besser“, haucht sie ihm entgegen und grinst breit. „Bestimmt fallen uns ein paar Sachen ein, um den Abend noch schöner zu machen.“
Jan räuspert sich extra laut. Ollie zieht seinen Arm etwas zurück. Wenn er nur ein bisschen Gewissen übrig hat, sollte ihm das Verhalten seiner Freundin mir gegenüber unangenehm sein.
Schnell zeichne ich die Abrechnungen als kontrolliert ab und gebe den beiden grünes Licht für ihren Feierabend. „Passt alles. Schönen Abend noch.“
Sie drehen sich um und marschieren händchenhaltend in Richtung Ausgang.
Jan stößt seinen Atem hörbar aus. „Mann, die Kuh lässt keine Gelegenheit aus, dir die Scheiße unter die Nase zu reiben, hä?“
Trotz der dummen Situation muss ich auflachen, weil er es treffender nicht hätte sagen können. „Nope. Scheinbar nicht.“
Kaptel 2
Sarah
Schwer atmend drehe ich den Schlüssel in meinem Türschloss. Man könnte denken, dass ich nach über zwei Jahren daran gewöhnt sein müsste, mich in den fünften Stock zu schleppen. So sehr ich die kleine Wohnung liebe, in der ich lebe, wünschte ich mir nach einer langen Schicht trotzdem einen Aufzug im Gebäude.
Beim Eintreten dudelt mir Musik entgegen. Sie kommt aus der Küche, zusammen mit Gelächter und dem unverwechselbar süßlichen Duft von Glühwein. Etwas Warmes, Weiches schnurrt um meine Beine herum.
„Na, Benny“, begrüße ich unseren WG-Kater und nehme ihn hoch. „Sollen wir mal gucken, was da drin vor sich geht?“
Neugierig gebe ich der Küchentür einen kleinen Schubs und sehe in zwei angeheiterte Gesichter. Mein jüngerer Bruder Mark, der nebenbei auch mein Mitbewohner ist, sitzt mit seiner Freundin Tina am Küchentisch.
„Was ist denn hier los?“
„Sarah. Du kommst genau richtig. Kannst unseren letzten Schluck Glühwein haben. Sonst würden wir uns nur darum streiten.“ Tina wackelt mit den Augenbrauen.
Sie ist nicht nur die Freundin meines Bruders, sondern auch meine. Genaugenommen war sie zuerst meine Freundin … und Kollegin.
Sie arbeitet, ebenso wie ich, an der Rezeption im Anton-Xaver Hotel. Dort haben wir uns vor einem Jahr kennengelernt und mochten uns sofort. Nur kurze Zeit später kam sie auf einen Mädelsabend in meiner Wohnung vorbei. Mark stieß dazu, und der Rest ist Geschichte. Seither sind die zwei unzertrennlich, und weil ich mich mit den beiden sehr gut verstehe und nur das Beste für sie will, freue ich mich darüber.
Lachend nehme ich ihr Angebot an. Der erste Glühwein der Saison. Warum nicht?
„Hatte nicht gedacht, dass ihr noch wach seid.“ Ich gucke auf die Uhr. Schon fast zwölf. Gähnend setze ich Benny auf dem Boden ab, und er macht sich davon.
„Tina hat morgen frei, und meine Vorlesung fängt dienstags etwas später an“, erklärt Mark.
Während ich mir das süße rote Gesöff in eine Tasse gieße, nehme ich ein seltsames Rascheln wahr. Mein Blick fällt auf den Kater, der hinten in der Ecke beim Fenster an den Fransen eines kleinen pinken Plastikbaumes spielt.
„Böser Benny“, schimpft Tina und scheucht ihn weg. „Lass unseren Weihnachtsbaum in Ruhe.“
„Unseren was?“
„Unseren Weihnachtsbaum. Ist er nicht schön?“
„Das ist nicht dein Ernst.“ Ich schaue fassungslos zwischen ihr und dem rosaroten Fremdkörper hin und her. „Kommt nicht in Frage, dass wir dieses künstliche Monster behalten.“
Mark und Tina fangen an zu lachen.
„Was? Er gefällt dir nicht?“ Sarkasmus liegt in Marks Stimme. „Tina hat ihn extra festlich geschmückt.“
Skeptisch gucke ich mir das Ungetüm näher an. „Das ist kein Weihnachtsschmuck, das sind Wattebällchen aus dem Badezimmer.“
„Die passen farblich wundervoll zum rosaroten Baum.“
Ich schenke Tina einen eindeutigen Blick.
„Na gut. Dann nicht.“ Sanft streichelt sie die Fransen der Äste.
„Wo habt ihr das Ding überhaupt aufgetrieben?“
„Wir haben Tinas Tante beim Umzug geholfen. Ein paar Sachen hat sie ausgemustert und uns gefragt, ob wir sie haben wollen“, erzählt mein Bruder und hebt dabei die geblümte Tasse an, in der sich sein Glühwein befindet.
Offensichtlich hat er die auch ergattert, denn vorher hatten wir sie noch nicht im Schrank stehen.
„Ich kann jedenfalls erahnen, warum sich die Tante von dem Baum trennen wollte. Und ihr nehmt das Teil gleich mit in unsere Wohnung“, meckere ich.
„Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“ Mark prostet mir zu.
„Oh doch“, wende ich ein. „Der bleibt auf keinen Fall hier stehen. Spätestens, wenn ich nächste Woche eine echte Tanne mitbringe, muss das pinke Monster gehen.“
Das wäre ja noch schöner.
„Keine Sorge. Er kann in Marks Zimmer wohnen.“ Tina grinst meinen Bruder frech an.
Mit einem müden Seufzen lasse ich mich auf den Stuhl plumpsen und reibe meine Stirn. „Was für ein Tag.“
„War es stressig in der Arbeit?“, will sie wissen.
„Frag lieber nicht.“ Ich genehmige mir einen großen Schluck aus der Tasse. „Frau Herald tanzte den halben Tag um uns herum, weil sie den Weihnachtsbaum in der Halle dekoriert hat.“
Tina verzieht das Gesicht.
„Und dieser Keimel ist natürlich nicht ohne viel Tamtam abgereist.“
„Oh, wie bin ich froh, dass ich heute frei hatte“, gratuliert sich meine Freundin selbst.
„Kannst du auch. Und das ist nicht alles.“
„Was war sonst noch?“
Ich stöhne jämmerlich und schüttle den Kopf. „Männer. Ich hasse Männer. Ich will nie wieder einen haben.“ Nochmal nehme ich einen Schluck aus meiner Tasse. „Eigentlich sollte ich was Stärkeres trinken.“
„Oh, jetzt wird es interessant.“ Tina steht auf und kramt im Küchenschrank herum. „Welche Männer?“
„Wenn ihr nun mit Frauengesprächen anfangt, dann geh ich lieber.“ Mein Bruder verdreht die Augen und seufzt übertrieben genervt.
„Nein, nein. Bleib. War nur Ollie und …“
„Ach, nicht schon wieder Ollie. Der Idiot hat keine deiner Tränen verdient.“ Tina knallt mir ein Schnapsglas vor die Nase und öffnet eine Flasche Jägermeister.
„Nicht doch. Ich hab das nicht wörtlich gemeint.“
Sie schenkt mir trotz meines Protests ein. „Egal. Trink und hör endlich auf, diesem Trottel hinterher zu trauern.“
Bis vor zwei Monaten waren Ollie und ich ein Paar gewesen. Dann erwischte ich ihn mit Carmen im Bett, mit der er gemeinsam im Hotelrestaurant arbeitet. Ich zog die Konsequenzen aus seinem Betrug und trennte mich von ihm. Eine Weile lang bemühte er sich, mich zurückzuerobern, bat mich wiederholt um Verzeihung. Doch ich konnte das alles nicht so schnell vergessen, brauchte Zeit. Diese wollte Ollie wohl nicht erübrigen und ist nun seit drei Wochen offiziell mit Carmen zusammen, die ihn während unserer Trennungszeit weiterhin hemmungslos angeflirtet hatte.
„Ich trauere ihm gar nicht mehr hinterher.“ Das ist nicht gelogen. Einen Mann, der so mühelos von einer Frau zur nächsten wechseln kann, will ich nicht. „Es ist nur nicht leicht, die beiden jeden Tag zu sehen und Carmens schadenfrohes Grinsen zu ertragen.“
„Ignorier doch das Pizzagesicht.“
Über diesen Ausdruck muss ich schmunzeln, während Benny auf meinen Schoß hüpft und es sich dort gemütlich macht.
„Oder hetze unseren Kampfkater auf sie“, schlägt Mark vor. „Dein Angriffsziel ist ein Pizzagesicht namens Carmen“, wendet er sich an Benny. „Bitte einmal herzhaft in den Finger beißen und die Krallen ausfahren.“
Wir alle lachen auf. Dieser Angriffsbefehl ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Benny hat Probleme, sich an fremde Menschen zu gewöhnen und in der Vergangenheit einige Male gekratzt oder auch schon mal gebissen. Das hat ihm den Spitznamen ‘Benny der Böse’ eingebrockt.
Gerade schnurrt er allerdings gemütlich vor sich hin, während ich ihm das grauweiße Fell kraule. Dabei fällt mir sein Namensvetter ein.
„Ach, und dann hat heute auch noch mein Schwarm aus der vierten Klasse ins Hotel eingecheckt.“
Tina guckt sofort auf. „Oooh! Erzähl, erzähl. Wer ist er?“
„Er heißt Ben Hansen.“
„Und du standst mal auf ihn?“
„Tja, irgendwie schon. Als Zehnjährige war ich unsterblich verliebt in ihn.“ Ich räuspere mich und überdenke meine Aussage. „Na ja, so weit man in dem Alter verliebt sein kann.“
„Natürlich kann man das“, sagt Tina zustimmend. „Mit zehn war ich absoluter Fan von …“ Sie zieht die Augenbrauen zusammen und setzt die Denkermiene auf. „Wie hieß diese amerikanische Boyband? Wisst ihr nicht mehr? Alle total süß.“
„Klar“, wirft Mark ein. „Und heute bestimmt alle megaabgefuckt und pleite.“
„Hm … Das stimmt. Aber wie hießen die nochmal?“
„Ist doch jetzt egal“, unterbricht er ihre Gedanken. „Sarah erzählt gerade von ihrem Loverboy.“
„Oh Gott. Nenn ihn nicht so.“ Der Typ ist ganz sicher nicht mein Loverboy. „Das war damals absolut unschuldig. Ich fand sein Lächeln einfach süß. Und er war sehr witzig.“
„Und dann?“ Tina sieht mich so gebannt an, als ob sie eine große Geschichte erwarten würde.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er kam irgendwann während des dritten Schuljahres in unsere Klasse, weil er gerade hergezogen war. Nach dem vierten Jahr war die Grundschule beendet, und wir gingen auf verschiedene Schulen. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Bis heute.“
„Und weiter? Ist sein Lächeln …“ Sie unterstreicht das Wort mit Gänsefüßchen in der Luft. „… immer noch so süß?“
„Das weiß ich nicht. Er hat beim Check-in nicht gelächelt und war total überheblich. Nichts war gut oder schnell genug. Ich hoffe, in den nächsten Tagen möglichst wenig von ihm zu sehen. Er ist ein richtig unsympathischer …“ Mir fehlen die Worte.
„Arsch“, beendet Mark meinen Satz.
„Was?“, stößt Tina so spitz aus, dass sich Benny auf meinem Schoß erschreckt. „Ihr seht euch nach vielen Jahren wieder, und er behandelt dich scheiße?“
„Er hat mich nicht erkannt. Da bin ich mir sicher. Wir waren ja nicht lange in einer Klasse, und er hat mich damals vermutlich gar nicht wahrgenommen.“ Ich erinnere mich nur deshalb so genau, weil er der allererste Junge war, bei dem ich Herzklopfen bekam. „Außerdem sind wir keine zehn mehr, sondern sechsundzwanzig“, erwähne ich das Offensichtliche.
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Was hätte ich denn sagen sollen? Hi, du hast dich gerade über tausend Dinge beschwert und wirkst ziemlich unsympathisch, aber … Tada. Ich bin es. Sarah. Mal ganz zu schweigen, dass er bestimmt nicht wüsste, wer Sarah ist.“
Die beiden nicken zustimmend.
„Stimmt. Hast du echt nicht nötig. Weißt du, warum er im Hotel wohnt?“
„Keine Ahnung. Er arbeitet für …“ Ich reibe mir die Stirn. Solche Namen bleiben mir nie im Gedächtnis. „Hab vergessen, welche Firma ihn eingebucht hat.“
„Ist ja auch egal. Bleibt er wenigstens zwei Tage? Morgen habe ich frei, aber ich würde gerne einen Blick auf ihn werfen.“
„Das ist die bittere Pille“, stöhne ich. „Er bleibt die ganze Woche, reist kurz fürs Wochenende ab und kommt nächsten Montag wieder. Bäh. Dann kannst du ihn einchecken. Ich will das nicht mehr machen.“
„Sehr gerne. Ich werde mir von dem nichts gefallen lassen.“ Tinas Blick wird kampflustig.
„Aber übertreibe es nicht. Du hast schon viel zu oft Ärger wegen so was bekommen, und Ben Hansen ist es echt nicht wert.“
Unverschämtheiten nimmt Tina niemals einfach so hin, was natürlich richtig ist, doch in manchen Situationen würde es mehr helfen, über den Dingen zu stehen, anstatt sich darauf einzulassen. Sie hat schon das ein oder andere Wortgefecht mit Gästen gewonnen, nur um dann Ärger mit unserem Hoteldirektor zu bekommen.
„Also haben wir jetzt nicht nur Benny den Bösen …“ Mark gießt sich und Tina einen Schluck Jägermeister ein und erhebt sein Glas. „… sondern auch noch Ben den Bösen. Prost!“
Kapitel 3
Ben
„Den Arnsberg hast du heute im Meeting sprachlos gemacht. Innerlich habe ich Tränen gelacht. Äußerlich musste ich mir so richtig auf die Zunge beißen, um es zu unterdrücken.“ Torsten klopft mir auf die Schulter und prostet mir mit seinem Bier zu.
„Ich habe nichts weiter getan, als meinen Standpunkt zu vertreten“, sage ich diplomatisch. Immerhin kenne ich meine neuen Kollegen nur kurze Zeit und habe keine Ahnung, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Bisher empfinde ich das Münchner Büro wie ein Haifischbecken, und der größte Hai ist Joachim Arnsberg. Er scheint mir Steine in den Weg legen zu wollen, wo es ihm nur möglich ist. Immer hat er meiner Meinung etwas entgegenzusetzen, egal ob es sich um die Kalkulation des nächsten Großprojekts handelt oder die Analyse einer Kostenverteilung. Dabei hat er mich gestern beim Teammeeting wie einen dummen Schuljungen aussehen lassen. Kurz wusste ich nicht, wie mir geschah und brachte meine Ausführungen mehr schlecht als recht über die Bühne. Gerade als ich mich gefangen hatte und anfing zu punkten, fiel mir Carsten Taling, ein anderer Kollege, in den Rücken. Was für ein beschissener Start. Heute allerdings wusste ich, wie der Hase läuft, und habe entsprechend reagiert.
„Ja, aber es war schön, den Arnsberg mal sprachlos zu sehen.“ Emilia nickt und leert ihr Glas.
„Ist er bei neuen Mitarbeitern immer so …“ Ich versuche, meine Worte vorsichtig zu wählen. Ein Bier mit Kollegen ist nett, trotzdem bleibe ich reserviert. „… unkooperativ?“
„Er ist einfach schon zu lange dabei und denkt, ihm gehört der Laden. Zu eingefahren. Frischer Wind ist dringend nötig. Und da kommst du ins Spiel. Du kannst froh sein, dass du dich nur kurz mit Arnsberg herumschlagen musst.“
„Ist wohl auch ganz gut für Arnsberg, wenn er sich nicht lange mit dir beschäftigen muss“, wirft Torsten ein.
„Wie meinst du das?“
„Er hatte seine eigenen Vorstellungen, wer seine Nachfolge antreten soll, wenn er in Rente geht“, sagt er vage.
„Carsten Taling“, platzt es aus Emilia heraus. Sie verdreht die Augen.
„Ich dachte eigentlich, das wäre schon besiegelt“, erklärt Torsten weiter. „Als klar wurde, dass jemand aus dem Hamburger Büro kommen würde, um Arnsbergs Job zu übernehmen, waren viele überrascht. Am meisten er selbst. Er hat etwa ein Jahr damit verbracht, Carsten einzuarbeiten. Inoffiziell natürlich. Steht wohl außer Frage, dass dich die beiden nicht abkönnen.“ Er lacht auf.
Ach was? Da liegt das Problem. Puh. Das lässt mich aufatmen. Ich proste ihm zu und bin dankbar für diese Information. Nun weiß ich, woran ich bin. Das sind Dinge, die ich in den Griff bekommen kann.
Ich verabschiede mich von den Kollegen nicht allzu spät, denn wenn ich ins Hotel komme, muss ich unbedingt noch ein paar E-Mails beantworten. Glücklicherweise liegt es nicht weit entfernt.
In der Hotellobby ist fast nichts los. Im Hintergrund läuft ganz leise Musik. Die meisten Sitzgruppen sind leer, und das Pärchen, das auf dem Sofa genau vor dem großen Weihnachtsbaum gesessen hat, erhebt sich gerade. Eigentlich könnte ich meinen Laptop kurz hier aufklappen und mir ein Bier von der Bar holen. Ist netter, als alleine auf dem Zimmer zu sitzen.
Keine fünf Minuten später habe ich mein Getränk und lasse mich auf einem der Sessel nieder. Ein paar Schluck vom Bier, während mein Computer hochfährt, und schon tippe ich drauf los. Eine E-Mail. Zwei. Dann drei.
Was steht als Nächstes an? Sollte ich mir die Statistik für die Budgetverteilung im kommenden Jahr ansehen? Ja, das sollte ich, wenn ich morgen punkten möchte und Arnsberg ein für alle Mal in seine Schranken verweisen will.
Mein Telefon reißt mich aus meinen Überlegungen. Der Name auf dem Display sagt mir, dass es mein bester Kumpel Henning ist.
„Was ist los, mein Herz? Ist dir ohne mich langweilig?“
Sein Lachen dringt durch die Leitung. „Moin, Moin. Na, wie ist die Bayernmetropole?“
Ich muss grinsen. Seit ich mich um die Stelle beworben habe, steht er der Sache skeptisch gegenüber.
„Es wird schon.“ Ich habe keine Lust, ihm von meinem holprigen Start zu erzählen, will aber auch nicht lügen.
„Ben, ich prophezeie dir, dass du schneller wieder im guten alten Norden sein wirst, als du denkst.“
„Wir werden sehen.“ Normalerweise verstärkt sich meine Bissfestigkeit, je mehr die Leute um mich herum versuchen, mir meine Ideen auszureden.
„Gibt es wenigstens schöne Frauen da unten?“
Mein Blick schweift durch die Halle und bleibt an der brünetten Rezeptionistin hängen. Hm. Es ist die Kleine, die mich gestern eingecheckt hat. Sie ist definitiv hübsch anzusehen. Insgeheim tat es mir echt leid, dass ich sie bei meiner Ankunft so blöd angemault habe, aber meine Laune war wegen Arnsberg im Keller.
„Ja. Die gibt’s hier auch“, sage ich und sehe ihr zu, wie sie einen Gast eincheckt, nebenher ein Telefonat annimmt und dabei lächelnd von einer Ecke zur anderen schwebt. Ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihr zu nehmen. Irgendetwas an ihr zieht mich an, und ich kann nicht feststellen, was es ist. Sie kommt mir bekannt vor. Hab ich schon gestern gedacht und dann wieder verworfen.
„Ben, Kumpelchen, hörst du mir überhaupt zu?“, fragt Henning am anderen Ende der Leitung.
„Ähm … Sorry. Ich war abgelenkt.“
„Hauptsache, du lässt dich am Samstag blicken, ja?“
„Samstag. Klar!“ Das könnte ich nicht vergessen. Es ist sein Geburtstag, und obwohl der Siebenundzwanzigste weit von einem runden Ereignis entfernt ist, hat er Gott und die Welt dazu eingeladen. Solche Partys schmeißt er öfter. Es wird sicherlich ein großer Spaß.
„Auf dich wartet eine Überraschung.“
„Was? Auf mich? Es ist dein Geburtstag.“ Ich lache. Henning übertreibt immer maßlos.
„Du wirst schon sehen. Ach, und falls dir in München doch langweilig wird, dann melde dich bei Sylvia und Lorenzo. Habe gehört, dass die auch gerade für einige Wochen in der Stadt sein müssten.“
„Alles klar. Werde ich machen.“
Wir beenden das Gespräch. Ich strecke mich, atme durch. Die ellenlange Excel-Datei flimmert geöffnet vor mir, und ich versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren. Nach dreißig Minuten habe ich die Tabelle so ergänzt, wie ich es für richtig halte und bin zufrieden. Vielleicht drucke ich mir die Statistik schnell aus, damit ich sie morgen beim Frühstück studieren kann.
Ich schnappe mir meinen Laptop und gehe rüber an die Rezeption. Während sich der eine Mitarbeiter mit einem Gast unterhält, hakt die Brünette irgendeine Liste ab. Sie ist so beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkt, und für ein paar Sekunden sehe ich ihr einfach nur zu.
Wie die übrigen Mitarbeiterinnen trägt sie ein rosarotes Dirndlkleid, was wohl die Arbeitsuniform in diesem Hotel darstellt. Alle Angestellten sind in traditionell bayerische Kleidung gehüllt. Ihr Haar ist zu einem lockeren Zopf geflochten und unterstreicht damit das Gesamtbild. Eine ihrer gewellten Strähnen hat sich gelöst und steht links etwas ab. Mir juckt es in den Fingern, sie hinter ihr Ohr zu schieben.
Meine seltsamen Gedankengänge überraschen mich, und ich kratze mich irritiert am Kopf.
Diese Bewegung lässt sie aufblicken. Sie zuckt zusammen, als sie mich sieht.
„Oh Entschuldigung. Ich hatte Sie nicht gesehen. Warten Sie schon lange?“
„Hängt vom Wartenden ab“, sage ich, weil ich mir die Zeit wunderbar damit vertrieben habe, ihr einfach nur zuzusehen. Aber gleich bemerke ich, dass sie meine Antwort wohl in den falschen Hals bekommen hat, denn ihre scheuen Rehaugen betrachten mich noch verschreckter als gestern. Und nun kommt mir der Gedanke wieder. Irgendwoher kenne ich sie.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt sie, nachdem ich nichts weiter sage.
Ich räuspere mich. „Ich würde gerne etwas ausdrucken. Könnte ich das hier machen?“
„Dafür können sie unser kleines Businesscenter nutzen.“ Sie weist auf eine Glastür neben der Rezeption, hinter der ich ein paar Computer entdecke.
„Der Drucker ist kaputt. Morgen kommt jemand, um ihn zu reparieren“, mischt sich ihr Kollege kurz ein und wendet sich wieder dem anderen Gast zu.
„Oh.“ Mit einer schnellen Handbewegung streicht sie sich die verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr. Hm. Das hätte ich wirklich zu gerne übernommen.
„In diesem Fall drucke ich Ihre Unterlagen selbstverständlich von hier. Bitte senden Sie mir ihre Datei zu.“ Sie greift sich eine Visitenkarte vom Hotel und zeigt auf die genannte E-Mail-Adresse. Dann lächelt sie mich an. Vermutlich eine beruflich antrainierte Geste, denn jede Faser ihres Körpers erzählt mir, dass sie lieber nichts mit mir zu tun haben will.
Mit drei Klicks habe ich meine Tabelle verschickt und lasse die kleine Brünette nicht aus den Augen, während wir auf das Eintreffen der E-Mail warten. Diese Situation ist ihr unangenehm. Selbst ein Blinder könnte das sehen. Sie schafft es nicht, meinem Blick standzuhalten, streicht sich immer wieder das Haar hinters Ohr, das dort eigentlich schon brav steckt, und guckt alle zwei Sekunden im virtuellen Posteingang nach, ob meine Dokumente angekommen sind.
„Da ist die E-Mail“, sagt sie und klingt erleichtert. Hastig macht sie sich daran, die Unterlagen auszudrucken, doch der Drucker rattert nur einmal kurz auf und scheint dann nichts weiter zu tun. „Oh. Das Papier ist alle.“
Ich halte es nicht aus. Sie ist zu niedlich, als sie an dem armen Gerät herumhantiert und damit nicht gerade freundlich umgeht. Grinsend lehne ich mich an die Rezeption, stütze meinen Kopf auf die Hand und starre sie unverhohlen an. Eine kleine Anmache würde sie wohl völlig aus dem Konzept bringen, daher lasse ich es lieber bleiben. Außerdem kreisen meine Gedanken wieder um die Frage, woher ich sie kenne.
Mit roten Wangen schließt sie das Papierfach am Gerät und versucht nochmal, meinen Kram auszudrucken.
„Oh Mann“, schimpft sie zu sich selbst. „Papierstau.“
Das Schicksal meint es heute nicht gut mit ihr.
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen, was ihr sichtlich nicht gefällt. Sorry, aber es ist zu lustig. Wieder öffnet sie ein paar Klappen, zieht zwei zerknitterte Papierfetzen heraus und nimmt einen erneuten Versuch vor. Diesmal hört sich der Vorgang erfolgreicher an. Kurz blickt sie auf und wünscht sich bestimmt schon einen Moment später, es nicht getan zu haben, denn ich lehne immer noch da und starre sie frech an. Das tut mir nicht mal leid. Ihre Verlegenheit ist einfach zu süß.
Irgendwann erlöst sie der Drucker und kommt zum Ende. Sie schnappt sich die Blätter und händigt sie mir aus.
„Bitte schön. Hier sind Ihre Unterlagen, Herr Hansen.“ Dabei sieht sie mich wieder mit ihren Rehaugen an.
Ich greife nach den Papierbögen, ohne meine Augen von ihren zu nehmen. Sie versucht, meinem Blick standzuhalten. Oh ja, sie versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Verlegen guckt sie zu Boden.
„Kennen wir uns irgendwoher?“, platzt es aus mir heraus. Gestern schob ich den Gedanken beiseite, doch heute bin ich mir hundertprozentig sicher. Diese scheuen Rehaugen habe ich schon mal gesehen.
Sie dreht sich zu mir um und schüttelt dann langsam den Kopf. „Nein. Das denke ich nicht.“
Wirklich nicht? Ich hätte darauf geschworen, brauche nur einen Anhaltspunkt.
„Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“ Mein Blick fällt auf das Namensschild, das sie trägt. Sarah Kellermann. Fieberhaft krame ich in meinem Gedächtnis.
„Nicht, dass ich wüsste. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Sie versucht sich an einem unbeteiligten Gesichtsausdruck und zuckt mit den Schultern. Dabei unterschätzt sie die Röte auf ihren Wangen. Sie ist eine sagenhaft schlechte Schauspielerin.
Ich bin mir nicht nur sicher, dass wir uns kennen, sondern bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass sie sehr genau weiß woher, es mir aber nicht sagen will. Doch für heute lasse ich es gut sein.
„Nein, ich brauche nichts weiter. Danke fürs Ausdrucken.“ Kurz wedle ich mit meinen Papieren in der Luft.
„Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.“ Da ist es wieder. Das falsche, beruflich antrainierte Lächeln. Je näher unser Gespräch dem Ende kommt, umso selbstsicherer wirkt sie.
„Gute Nacht“, sage ich und grinse sie nochmal frech an.
Erwischt. Wieder erröten ihre Wangen, und ich habe riesigen Spaß dran. Ich werde noch herausfinden, was es mit ihr auf sich hat.
Mit leichten Schritten mache ich mich mit dem Laptop und den Unterlagen auf den Weg in mein Zimmer, in dem ich die Statistik bis in die Nacht hinein studiere und darüber fast einnicke. Hundemüde falle ich ins Bett, will eigentlich nur noch schlafen. Aber da ist sie wieder. Sarah Kellermann. Ich grüble. Ich überlege. Ich komm nicht drauf. Sarah Kellermann, woher kenne ich dich? Ich hasse es, dass ich nicht abschalten kann, muss morgen fit sein. Verdammt! Sarah Kellermann, lass mich in Ruhe.
So wälze ich mich zwischen Halbschlaf und komischen Träumen hin und her, bis es irgendwann in meinem Kopf Klick macht. Sarah Kellermann. Wir waren in derselben Klasse. Müsste Grundschulalter gewesen sein. Allzu lange habe ich nicht in München gewohnt und das meiste aus der Zeit vergessen. So auch Sarah. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich je ein Wort mit ihr gewechselt habe. Vermutlich nicht. Aber irgendwie sind mir ihre schüchternen Rehaugen in Erinnerung geblieben.
Seufzend werfe ich einen Blick auf meine Uhr. Schon nach fünf. Scheiße. Ich muss gleich aufstehen und fühle mich wie gerädert.